Fact oder Fake?
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Über Fake News und spirituelle Tabuzonen

Was uns von Gott wegtreibt
 
Publiziert: 17.08.2019

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Von Ruedi Josuran

Ich sitze im ICE Richtung Frankfurt. Auf meinem Nebensitz «Die Zeit». Es geht auch um Fake News: Um Trump, um Facebook, um Twitter. Vieles wiederholt sich. Mein Blick bleibt aber bei einer anderen Geschichte stehen, die berührt und sogar erschüttert. Nachdenklich macht. Auch etwas wütend. Denn es geht auch um Fake News in christlichen Kreisen.

«Julia stellt ihren Wecker täglich auf fünf Uhr, damit sie sich vor der Schule noch eine Stunde in die Bibel vertiefen kann. Samstags geht sie zur Jugendstunde, sonntags zum Gottesdienst, unter der Woche zu Chorproben. Die Gemeinde spendet Geborgenheit und Zuneigung. Doch auch Angst begleitet sie. Und Schuldgefühle. Etwa, wenn sie das tägliche Bibelstudium auslässt oder ihr angeblich lasterhafte Gedanken in den Sinn kommen. Kontakte ausserhalb der christlichen Gemeinde, so hört die Schülerin in der Predigt, sind unerwünscht: Schliesslich könnten sie einen vom rechten Weg abbringen. Als sich herumspricht, dass sie eine Beziehung zu einem muslimischen Schüler begonnen hat, kommt es zum Eklat. Eine Frau drückt ihr einen Brief in die Hand. «Dunkelheit kann nicht mit Licht einhergehen », steht darin. Der Pastor zitiert die 17-Jährige zum Gespräch. Der Geistliche will sicherstellen, dass sie keinen vorehelichen Sex hat. Julia weint und beteuert ihren Glauben. Nach einem halben Jahr bricht sie die Beziehung zu ihrem Freund ab. «Schuldgefühle hatte ich seit meinem sechsten Lebensjahr», erinnert sie sich. Ein Auslandjahr in einer Bibelschule in Australien führte schliesslich zum Umdenken: «Ich habe mich vor allem gefragt, wieso stets die Liebe zu Gott gepredigt wird, aber gleichzeitig Katholiken und Protestanten nicht akzeptiert werden. Die wollen die ganze Welt missionieren.»

Als sie nach Hause kam und sich von der Gemeinde distanzierte, hätten Eltern und Gemeinde zunächst besorgt, dann mit Zorn und Groll reagiert. Alte Bekannte grüssten nicht mehr. Der Liebesentzug und Gewissensbisse trafen sie hart. Es folgten Depression und Panikattacken – sie dachte an Suizid. «Meine Eltern meinten, ohne Gott müsse es mir ja schlecht gehen. Ich hatte plötzlich keine Familie mehr.» Die Ärzte diagnostizierten eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Allerdings fahrlässig, meint ihre heutige Therapeutin, die nicht genannt werden will. Für sie sei klar: Julia habe eine schwere Traumatisierung in der Gemeinde erlebt.

Falsche Wahrheiten in christlichen Kreisen

Solche und ähnliche Geschichten sind mir immer wieder begegnet. Teilweise war ich in meinen ersten Glaubensjahren selber daran beteiligt. Dann wenn beispielsweise Gesundheit und Erfolg als Ergebnis guten Glaubens und Krankheit als Ursache von Sünde interpretiert wurden. Was kann es Schmerzhafteres geben, als den eigenen Glauben zu verlieren? Was kann es Verunsichernderes geben, als dass sich unter den Füssen der Boden auflöst, der jahrzehntelang getragen hat? Das als sicher geglaubte Ziel der himmlischen Erlösung, der Sinn des Lebens, ja, Gott selbst, erscheint nur noch als Hirngespinst, als frommer Wunsch, nichts weiter. Ein Gott, der dem Schrecken der Realität nicht standhalten kann. Zweifel, Traurigkeit, Perspektivlosigkeit treten an die Stelle des Glaubens. Also ein Extrembeispiel? Ein Einzelfall? Gar Fake News über christliche Gemeinden? So einfach will ich es mir nicht machen. Unzählige haben mir in persönlichen Gesprächen oder in Radio- und TV-Talks solche oder ähnliche Geschichten erzählt. Da formulierte es ein reformierter Pfarrer so: «Die Kanzel ist meist eine Einbahnstrasse für Informationen und eignet sich daher sehr gut für Manipulationen. In einem alten biblischen Text wird beschrieben, wie der Gottesdienst früher gestaltet war – mehrere konnten ihre Gedanken vortragen – ihre Botschaft wurde von den anderen sogleich geprüft», schreibt der Apostel Paulus im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth: «Von den Brüdern, die Gottes Weisungen empfangen, sollen nur zwei oder drei sprechen; die anderen sollen das Gesagte deuten und beurteilen.»

Wie oft habe ich erlebt, dass kritische Rückfragen als «geistliche Rebellion» bezeichnet wurden und damit ein weiterer Dialog verhindert wurde. «Totschlagargumente » wurden benutzt, um keine wirkliche Auseinandersetzung aufkommen zu lassen. Um letztlich in der eigenen Komfortzone zu bleiben. Genau an diesem Punkt wird häufig fein manipuliert. Ja, es gibt auch bei uns geistlichen und emotionalen Missbrauch. Folgende Strategien weisen darauf hin:

Vom Opfer zum Kranken

Ein sachliches Problem oder ein Missstand wird angesprochen. In solchen Gesprächen realisieren Ratsuchende plötzlich, dass sie manipuliert werden. Statt Hilfe zu erfahren, werden sie selbst zum Problem gemacht. Als Folge davon wird diesen Personen der Glaube abgesprochen. Nicht selten werden sie als psychisch krank oder sogar besessen bezeichnet. Eine sachliche Diskussion über einen Missstand wird in einem missbräuchlichen System nie stattfinden.

Kraft eines Amtes

Mit Bibelstellen über «Leiterschaft» werden Hilfe suchende Menschen darüber informiert, dass der Leiter quasi von Gott eingesetzt und nicht zu hinterfragen ist. Es wird stark auf Unterordnung gedrängt.

Kein Seelsorgegeheimnis

Um sich ein professionelles Image zu geben, nennt man solche Gespräche Mentoring, Coaching, Beratung. Diese Begriffe helfen, die Ratsuchenden unter Druck zu setzen. Schliesslich sind Fachleute am Werk, wenigstens wird dies so subtil suggeriert. Diese Personen besprechen Inhalte und biografische Berichte aus seelsorgerlichen Sitzungen miteinander und versuchen Menschen damit zu manipulieren, bis hin zu Erpressung. So nebenbei wird auch noch das Seelsorgegeheimnis verletzt.

Umfeld wird manipuliert

Wird jemand in einer hinterfragenden Art unbequem, werden Menschen in deren Umfeld manipuliert und aufgehetzt. Dies können Mitglieder der Gemeinschaft sein, Freunde, Ehepartner oder gar die ganze Familie. Aussagen wie: «XY hat eine schwere Zeit und greift die Leiterschaft mit Lügen an», werden durchaus subtil in Gesprächen, Gebetskreisen und sogar Predigten eingebaut. In Gebetskreisen kommt die Information über diese Personen dann oft mit dem Argument: «Nur fürs Gebet.»

Zu viele Fake News im Namen Gottes

Leute, die damit nicht mehr klarkommen, werden ausgegrenzt. In eine Ecke gestellt: auch Torsten Hebel, ein Gast in einer früheren Fernsehsendung1. Die TV- und Radiotalks mit ihm waren besonders intensiv. Ausgerechnet einer der bekanntesten Jugendevangelisten und christlichen Kabarettisten verliert seinen Glauben an Gott. Unzählige junge Menschen haben sich nach seinen Predigten bei evangelistischen Veranstaltungen wie «Jesus House» zum christlichen Glauben bekehrt. Ausführlich schildert Hebel in seinem Buch «Freischwimmer», wie kritisch er mittlerweile die «Aufrufe» zu einer Entscheidung für Jesus im Anschluss an die Predigt sieht. Als manipulativ empfinde er sie, auch wenn er die Menschen, die sich auf diese Weise für ein Leben mit Christus entschieden hätten, weiter achte.

Im Rahmen des ERF Medien-Angebots «Die 10 Besten» habe ich mich intensiv mit den Zehn Geboten beschäftigt. Das zweite Gebot ist deutlich: «Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen.»

Das bedeutet, den Namen Gottes mit Respekt behandeln, ihn nicht für irgendeinen falschen Schwur in den Mund zu nehmen oder – schlimmer noch – wie es immer wieder versucht wurde, als eine Art magische Formel für einen faulen Zauber. Nein, dazu darf Gottes Name nicht herhalten, dazu lässt er sich nicht benutzen. Im Namen Gottes dürfen wir kein Schindluder treiben. Gott lässt sich nicht fremdbestimmen. Und genau deshalb sollen wir ihn einfach «Gott» nennen und nicht bei einem Namen, mit dem man – wie Priester im alten Ägypten – Zauberformeln basteln konnte. Und doch hat Gott in unserer Bibel so etwas wie einen Namen. Als Mose Gott einmal nach seinem Namen fragt, antwortet ihm Gott tatsächlich und sagt sinngemäss: Ich bin, der ich bin, ich war, der ich sein werde, ich werde sein, der ich war, ich bin, der ich für euch da bin, ich werde immer für euch da sein – all das steckt in diesem kleinen Wortspiel, das also eigentlich gar kein Name ist, sondern ein Programm: ein Programm das sich jeder Manipulation entzieht und eben wirklich nicht als Zauberformel gebraucht werden kann, wie das in der antiken Welt eben durchaus üblich war.

Lügen über Gott

In seinem Buch «Lügen, die wir uns über Gott erzählen» hinterfragt der kanadische Bestsellerautor William Paul Young Ansichten über Gott, die sich in der Gesellschaft verfestigt haben. Im Interview mit dem christlichen Medienmagazin «pro» erzählt er auch von seiner evangelikalen Erziehung und was ihn an der Institution Kirche stört. Meine Begegnung mit dem Autor von «Die Hütte» gehört für mich zu den eindrücklichsten in meiner Journalisten-Laufbahn. Wir trafen uns in einer Buchhandlung in Einsiedeln an einem kalten und unfreundlichen November-Abend. Unsere Gespräche drehten sich um eigene biografische Erfahrungen, um Manipulation, Fake News, Selbstbetrug. Vieles davon ist immer noch in einer spirituellen Tabuzone.

Den Kern der theologischen «Fake News» fasst Young so zusammen: «Die grösste Lüge war, dass Gott nicht gut ist. Es ging dabei mehr um Gott, den Vater. Jesus schien anders zu sein. Es gab zwei Figuren: Jesus, mein Freund, der mich liebte. Aber Gott als Vater drehte sein Gesicht weg, war distanziert und abweisend. Er war der grosse Gott. Wegen den Verletzungen in meinem Leben war der wichtigste Aspekt für mich das Vertrauen. Du kannst niemandem vertrauen, dem du nicht glaubst, dass er gut ist. Ja, er liebt mich zwar, aber er beurteilt mich auch. Jesus kommt, um mich vor ihm zu beschützen. Aber es gab eine Menge Lügen – nicht nur über Gott. Ich hatte eine sehr belastete Beziehung zu meinem Vater. Ich projizierte seine Persönlichkeit auf das Gesicht Gottes. Mein Vater war ein gebrochener, aber auch ein religiöser Mann. Durch die Taten meines Vaters spiegelten sich Gottes Taten. Ich fühlte mich so klein und wertlos. Mein Vater war ein missbrauchender, disziplinärer und wütender junger Mann. Als Kind weisst du nicht, dass dein Vater auch eine Last mit sich herumschleppt.»

Young erzählt, dass er irgendwann mal kleine Nachrichten bei Twitter herumschickte. Die Frage, die ihn herumtrieb: Was sind die Dinge, die Gott niemals sagen würde? Zum Beispiel: «Du hast mich enttäuscht!» Oder: «Du bist wertlos!» Die Menschen reagierten sehr emotional darauf. Es regte sehr positive Gedanken an. Zuerst lautete das Konzept: Wörter, die du niemals von Gott hören wirst. Daraus wurden die Lügen, die wir uns über Gott erzählen. Eines Abends habe er sich mit Freunden unterhalten, die Theologen sind. In fünf Minuten kamen 150 Lügen zusammen. Daraus wählte er dann die 28 fundamentalsten Lügen aus und ging ihnen auf die Spur.

Wir sind uns einig: die Kirche, die Gemeinden, das sind auch «unsere Leute». Wir sind Teil des Leibes Christi. Die Spaltung muss überwunden werden. Doch Young ist überzeugt: «Die Kirche schafft ein Wir gegen die anderen. Aber das macht nicht nur die Religion. Von Menschen geschaffene Systeme wie die Politik oder die Wirtschaft machen das auch, um die Kontrolle zu behalten. Was wir in Jesus finden ist aber eine vereinigende Präsenz von Sklaven und Herrschern, Juden und Heiden, Männern und Frauen.»

Mehr Fragen als Antworten

Auch Torsten Hebel fasst die Spannung zwischen Wahrheit und Manipulation gut zusammen: «Theologie ist ja zu 80 Prozent Biografie. Das bedeutet: Fragen Sie fünf Theologen nach Abendmahlsverständnis oder Taufverständnis oder diese ganzen kirchlichen Fragen, und Sie bekommen 19 unterschiedliche Antworten. Und jeder nimmt aber die Wahrheit für sich in Anspruch. Und mit diesem Spiel kann ich nichts mehr anfangen. Ich glaube auch, dass der Begriff der Wahrheitsfindung oder Wahrheit an sich eigentlich kein Begriff ist, der einem Menschen gehört, schon gar keinem Theologen. Wenn es jemand von sich behaupten kann, dann ist es Gott selbst. Aber diesen können wir eben auch nicht vereinnahmen. Und deshalb muss man sich sehr vorsichtig und mit sehr viel Demut dieser Wahrheit nähern, und das habe ich gemacht, da bin ich jetzt gerade noch dran, und das ist ein Weg, den man geht. Und da kommt dann tatsächlich so dieses geflügelte Wort «Der Weg ist das Ziel» wirklich zum Tragen. Ich habe heute viel weniger Antworten als damals, aber viel mehr Fragen übers Leben, über den Glauben, über das, was oder wer Gott ist. Und diese Fragen sind unbequem und damit kommen viele andere Menschen nicht so zurecht. Aber ich eben auch nicht, und deshalb muss man sich diesen stellen und sie abarbeiten.»

Ist das eine Prävention gegen weitere Fehlentwicklungen, hin zu einem gesunden Glaubensverständnis? Die Zeit vergeht. Es ist höchste Zeit für mich aus dem ICE auszusteigen. Und aus falschen Mustern. Es geht um Grösseres. Um Reich Gottes, um einen Gott, der Menschen über alles liebt und sich nach Gemeinschaft sehnt. Und das ist kein Fake.

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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