Älterer Mann und jüngere Frau tragen Boxen mit Körben voll von Trauben
Generationen mit Gemeinsamem | (c) 123rf

Was nehmen wir mit, was lassen wir los?

Wie Herkunft unser Leben prägt.
 
Publiziert: 14.08.2020

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Von Marnie Hux-Ebermann

Eltern geben uns nicht nur Gene und Charakterzüge mit auf den Weg, sie prägen auch unsere Werthaltung und die Art, wie wir die Welt sehen. Je nach Verhältnis zu unseren Eltern, ist es kein einfacher Weg herauszufinden, welche Werte und Prägungen wir bewusst pflegen und weiterentwickeln und von welchen wir uns besser lösen wollen. Im Gespräch mit Nelly und Johannes Lehner, seit 38 Jahren verheiratet, selbst Eltern von drei erwachsenen Kindern und erfahrene Seelsorger, gehen wir den Fragen nach, wie man sich mit seiner Herkunft versöhnen kann.

Aus der Sicht des Seelsorgers, wie fest spielt die Prägung durch die Eltern, bzw. die Herkunft eine Rolle für das Leben?
Johannes: Sie spielt eine sehr grosse Rolle. Es sind vor allem die ersten Jahre, die ein Kind prägen. Es kennt nichts anderes als sein Elternhaus. Für das Kind sind Werte und der Umgang in der Familie, wie auch immer sie sind, zuerst einmal normal.
Muss man als Seelsorger immer auf die Herkunft schauen?
Nelly: In der Regel ist es so. Wir schauen immer, was die Person mitbringt mit dem Ziel, in die Zukunft zu blicken. Die Zukunft baut auf der Vergangenheit auf, Dinge aus der Vergangenheit beeinflussen unsere Zukunft. Es gibt auch viel Gutes, was uns in die Wiege gelegt wurde, und was man in Krisenzeiten aktivieren kann.
Gilt der seelsorgerliche Blick auf die Herkunft auch, wenn der Ratsuchende aus einer «intakten» Familie kommt?
Johannes: Im Normalfall denken die meisten, ich hab’s als Kind ja eigentlich gutgehabt. Bei dem «eigentlich» bleiben wir dann häufig hängen. Selbst wenn wir denken, es war alles bestens, gibt es irgendwo immer Punkte, an denen wir anstehen. Und deren Wurzeln liegen häufig in der Kindheit. Erziehung ist so individuell und geprägt von eigenen Erfahrungen aus der Kindheit und unseren zum Teil selbst verletzten Herzen. Aus meiner Sicht gibt es die absolut fehlerfreie Erziehung nicht. Da gehören für mich auch die Erfahrungen in der Schulzeit dazu. Manchmal sind es vermeintlich kleine Lappalien, die uns nachhaltig in Erinnerung bleiben und heute in ähnlichen Situationen wieder hochkommen.
Das sind die Erfahrungen, die Sie als Seelsorger erleben durften. Was sind Ihre eigenen Erfahrungen, wie haben Sie Ihre Kindheit erlebt, was hat Sie geprägt?
Nelly: Ich bin in einer sehr engen Glaubensgemeinschaft und in einer ebenso engen Familie aufgewachsen. Im Grossen und Ganzen habe ich meine Kindheit jedoch als behütet und schön erlebt. Schwieriger wurde es für mich erst in der Teenagerzeit, als ich merkte, dass ich ausgegrenzt wurde, weil ich bei keinem Schulfest oder bei keiner Party dabei sein durfte. Johannes: Ich bin landeskirchlich aufgewachsen, meine Mutter gab Sonntagsschule und die Grossmütter waren stille Beterinnen. Rückblickend hat mich das stark geprägt. Ich habe mein Elternhaus immer als gut empfunden. Erst später habe ich realisiert, dass ich zum einen überbehütet war und es zum anderen nie recht machen konnte. Nelly und ich sind beide in einem Geschäftshaushalt aufgewachsen. Das Geschäft meiner Eltern, das sie während der Nachkriegszeit aufgebaut haben, lag vis-à-vis vom Schulhaus. Damals war man auf Kunden angewiesen, und was man nicht brauchte, waren Kinder, die auffällig waren und über die sich die Leute aufregen. Da hat man sich als Kind angepasst, um bloss nicht aufzufallen. Nelly: Auch ich musste konform sein, als Geschäftskind und in der Gemeinschaft. Ich wurde ebenso erzogen, dass ich nirgends anecke.
Auch wenn sich Ihre Geschichten auf den ersten Blick unterschiedlich anhören, sind da Parallelen in der Erziehung zu erkennen. Wo sehen Sie bei sich die Unterschiede in der Prägung?
Johannes: Ich denke, der grosse Unterschied lag im Umgang mit der Prägung. Vom Herzen her bin ich nicht der «Konforme». Als Teenager und junger Erwachsener habe ich versucht auszubrechen. Ich habe ausgetestet, wie viel es verträgt und ausgelotet, was möglich ist. Man könnte auch sagen, ich war rebellisch, um mich aus Mustern und von den Eltern zu lösen. Nelly: Ich war sehr angepasst, mein Wesen ist harmoniebedürftig, und ich habe in dieser Zeit mit Rückzug ins Schneckenhaus reagiert.
Es gibt also eine ähnliche Prägung, aber einen doch unterschiedlichen Umgang damit. Wie hat sich das auf Ihr gemeinsames Leben ausgewirkt?
Johannes: Da gab es natürlich Reibungspunkte. Auch in der Ehe. Wir hatten anfangs so Mühe, wir selbst zu sein. Wir hatten es ja auch nicht gelernt. Wir lernten uns anzupassen an die Bedürfnisse anderer und waren als Paar überfordert. Aus Angst, den anderen zu verletzen, haben wir unsere Bedürfnisse und ehrlichen Meinungen nicht angebracht. Vor lauter Vorsicht haben wir uns dem anderen nicht «zugemutet». Nelly: Ich hatte nie gelernt, Entscheidungen zu treffen. Aus dem überbehüteten Elternhaus bin ich direkt in die Ehe gestartet. Ich habe versucht, alle Entscheidungen an meinen Mann zu delegieren. Johannes: Nelly war 16 und ich 18 Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Ich wollte damals mit meinen Entscheidungen niemanden verletzen. Aus Angst, einander zu verlieren, wenn man ehrlich ist, waren wir es darum erstmal nicht. So kam es ein Stück weit zu einer falschen Abhängigkeit voneinander.
Wie wichtig war es damals, dass der Partner «ein gutes Bild» abgibt?
Johannes: Sehr wichtig. Den Rahmen dafür haben wir uns aber selbst gesetzt. Besonders als Ehepaar wollten wir ein gutes Bild abgeben, und das haben wir ziemlich gut hinbekommen. Das Bild zu wahren, obwohl es im Herzen oft anders aussah, war letztlich sehr anstrengend und ungesund.
Gab es ein Schlüsselerlebnis, einen Moment, an dem man aus allem ausbrechen wollte?
Nelly: Ja den Moment hat’s gegeben. Wir hatten drei kleine Kinder, führten das Geschäft der Schwiegereltern, Johannes arbeitete sehr viel, und ich war oft allein. Ich hatte Trennungsgedanken. Aber wie so oft in besonders herausfordernden Momenten, kommt Gott plötzlich auf wunderbare Weise ins Leben. So auch zu diesem Zeitpunkt.
Gott hat also nicht immer eine Rolle gespielt, obwohl Sie ja religiös aufgewachsen sind?
Nelly: Jein. Ich kannte die Bibel, hatte aber ein strenges Gottesbild. Ich habe immer geglaubt, dass es Gott gibt, hatte aber Schuldgefühle gegenüber Gott, weil ich die Gemeinschaft und die Familie verlassen habe.
Und wie hat sich das Gottesbild plötzlich geändert?
Johannes: Ich bin vom Glauben her mit der Gewissheit aufgewachsen: «Gott sieht alles, pass auf, was du machst!» Ich realisierte plötzlich, dass Nelly unglücklich war in der Ehe und fing an, mir Gedanken zu machen. Ich hatte das Geschäft, war vielfältig engagiert in Vereinen, in Politik und im Militär. Ich habe dadurch sehr viel gearbeitet und war viel abwesend. Später realisierte ich, dass ich das tat, weil ich ja beweisen musste, dass ich jemand bin! Anlässlich eines Gottesdienstes liess ich für mich beten. Was ab dann geschah, verblüffte zuallererst mich selbst: Morgens war ich nicht mehr der Erste im Büro. Mittags wollte ich heim zu der Familie und abends verliess ich gleichzeitig das Büro wie unsere Angestellten. Das war absolut neu. Und Gott war so gnädig, dass die Umsätze in dieser Zeit sogar noch gestiegen sind! Unsere Kinder haben gestaunt, dass ich mich so verändert habe. Mit diesen Erlebnissen änderte sich plötzlich auch mein Bild von Gott, der übernatürlich eingreift, weil er mich liebt.
Eine grosse Erleichterung für Sie, Nelly. Ihr Gottesbild war ja noch nicht verändert, haben sie sich anstecken lassen von dem, was passierte?
Nelly: Es war von heute auf morgen eine grosse Veränderung, und ich staunte über meinen Mann. Mein eigenes Gottesbild zu ändern brauchte dann aber doch noch einen sehr langen seelsorgerlichen Prozess. Auf dem Weg dorthin ist viel Heilung im Herzen passiert. Mit der Zeit lernte ich den liebenden Gott kennen, der es gut mit mir meint, und lernte immer mehr, ihm zu vertrauen.
Fragen wie «Was denken die anderen von mir? Was denkt Gott von mir?» waren tief verankert in Ihrem Denken. Gab es zudem auch Werthaltungen, die einem neuen Gottesbild noch im Wege standen?
Nelly: Ja, die religiöse, gesetzliche Prägung stand im Wege. Als wir geheiratet haben, musste ich mich entweder für meinen Mann oder meine Familie entscheiden. Daraufhin sind die meisten Beziehungen zu meiner Familie abgebrochen. Diese Trennung hat sehr weh getan, und ich musste den Verlust und den Schmerz über Jahre in der Tiefe verarbeiten. Während dieser Prozesse habe ich mich versöhnt mit der Familie, auch wenn die Versöhnung vorerst einseitig blieb. Johannes: Auch ich musste mich lösen von alten Mustern, z.B. von meinem Vater, dem ich nicht genügen konnte. Du bist wer, wenn du leistest, Liebe durch Leistung. Das «Was-denkenandere-von-mir?» hat mich lange begleitet und ist ab und zu immer noch ein Thema. Leider habe ich unbewusst später das gleiche Muster meinem Sohn weitergebenen. Das plötzlich zu realisieren, war sehr schmerzhaft. Es ist allein Gottes Gnade, dass wir mit allen drei Kindern reflektieren, unser Versagen zugeben und sie um Vergebung bitten konnten.
Zu realisieren, dass man Muster, von denen man sich eigentlich lösen wollte, unbewusst den Kindern weitergegeben hat – wie geht man mit dem als Eltern um?
Nelly: Wir hatten lange mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Am Anfang unseres Weges mit Gott mussten wir mit unserem eigenen Leben aufräumen. Erst dann konnten wir den Kindern anders begegnen. Wir lieben sie einfach und nehmen sie so, wie sie sind. Wir wertschätzen sie in dem, wer sie sind und was sie tun. Heute kommen alle gerne zu uns, und wir haben eine herzliche Beziehung, geniessen gemeinsames Essen und gute, offene Gespräche. Das ist ein wunderbares Geschenk.
In einer idealen Welt würden also Eltern zuerst ihre eigenen Herzen heilen lassen bevor sie Kinder bekämen …
Johannes: Das wäre schön. Diese ideale Welt gibt es aber so nicht, und das Leben ist ein Prozess. Wir alle werden von aussen geprägt. Zerstörerische Muster zu verlassen und neue Wege zu gehen braucht die Erkenntnis, dass es nötig ist. Und meistens viel Zeit. Ich glaube aber, Gott hat unseren Mist schon eingerechnet in seine Pläne und macht Dünger daraus für all das, was kommt. Gott nimmt unsere Probleme, um uns nah an sein Herz zu holen. Wir waren jung und naiv. Heute würden wir die Prioritäten sicher anders setzen und Gott viel früher bitten, uns unsere Fehler aufzuzeigen.
Wie wichtig ist es, dass man mit seiner Herkunft versöhnt ist und dass die Generationen untereinander versöhnt sind?
Nelly: Mein damaliger Entscheid für meinen Mann mit der traurigen Konsequenz, dass ich ab dem Moment für meine Familie nicht mehr dazu gehörte, tat damals allen sehr weh. Eine Versöhnung in meinem Herzen mit der Familie war für mich sehr wichtig. Ohne sie wäre ich nicht in die Freiheit und in den Frieden gekommen, aus dem heraus das Leben viel voller und schöner wird. Manchmal ist diese Versöhnung, wie in meinem Fall, vorerst nur einseitig möglich. Jemand vergibt, auch wenn die andere Seite noch nicht so weit ist und es vielleicht auch nie sein wird. Durch die Vergebung im eigenen Herzen passiert aber häufig auch etwas im Herzen des Gegenübers. In den vergangenen Monaten durfte ich zusammen mit meinen Geschwistern meinen Vater im Sterben begleiten. Er zeigte mir in seinen letzten Tagen seine Liebe mit Worten und Gesten, und es durfte auch von seiner Seite Versöhnung geschehen. Meine versöhnte Herzenshaltung hat auch in seinem Herzen etwas bewegt.

Radio-Talk

Dieses Interview wurde als Radio Talk aufgenommen von Michelle Boss, Moderationsleiterin Radio Life Channel. Das ganze Interview kann nachgehört werden unter www.erf-medien.ch

Zu den Personen

Nelly und Johannes Lehner sind seit ihrer Kindheit wohnhaft in Schöftland (AG). Die Eltern von drei erwachsenen Kindern sind seit 38 Jahren verheiratet. Als ACC-akkreditierte Seelsorger mit langjähriger Erfahrung begleiten sie einzelne Personen und Ehepaare auf ihrem Weg zu einem stabilen, guten Glaubens- und Lebensfundament. Gemeinsam entwerfen sie als Innenarchitekten «Lösungen für den Raum».

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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