Seniorenpaar spaziert im goldenen Herbst | (c) 123rf
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Mehr Anfang war selten

Die Pensionierung: mehr Neuanfang als Abschied
 
Publiziert: 16.12.2019

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Von Jürgen Werth

Alles zu Ende? Oder alles auf Anfang? Der Schritt in den Ruhestand ist oft ein Schritt ins Ungewisse. Jürgen Werth hat ihn hinter sich. Und festgehalten, was ihm Kopf und Herz und Seele diktiert haben. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Tagebuch seiner emotionalen Achterbahnfahrt eines Abschieds und eines Neubeginns.

Endlich selbstständig
Gestern am Davoser See: ein nicht mehr allzu junger Wanderer in knallgelbem T-Shirt mit dem Aufdruck «Endlich selbstständig». So kann man auch den Eintritt in den Ruhestand feiern. Obwohl mir da neulich ein frischgebackener Ruheständler etwas ganz anderes erzählt hat. Eine grosse Nummer war er gewesen in seiner Behörde. Sein Wort hatte etwas gegolten. Nun war er Hilfsarbeiter im Haushalt seiner Frau. «Die ersten Monate waren richtig hart», sagte er. Inzwischen hätte er sich eingefunden. Gewöhnt. Und seine Frau auch. Wenigstens ein bisschen. Endlich selbstständig? Die Schwaben nennen den männlichen Ruhestand gern augenzwinkernd den «Dätsch-mr-Stand». Weil Männer das dann ständig zu hören kriegten: «Dätsch mr net eikaufe?» «Dätsch mr net d’Abwasch mache?» «Dätsch mr net Kartoffle schäle?»

Endlich selbstständig? Ich geb’s ja zu: Manchmal habe ich da auch ein bisschen Angst. Vom Vorstandsvorsitzenden zur Haushaltshilfe. Von einem Tag auf den anderen. Endlich selbstständig? Oder endlich selbst ständig im Dienst einer höheren Macht? Ich glaube, auch Selbstständigkeit ist ein Ausbildungsberuf. Heute Abend habe ich im Internet nach diesem T-Shirt gesucht. Habe aber nur eins gefunden, das einen ähnlichen Aufdruck anbietet: «Selbst & ständig». Das gefällt mir noch besser: man selbst sein und das ständig. Das ist es wohl. Aber das fängt nicht erst mit der nachberuflichen Selbstständigkeit an.

Aufräumen
Nun hat das grosse Aufräumen begonnen. Im Büro. Zu Hause. Bücher. Ordner. Briefe. Fotos. Manches Buch habe ich vor dreissig Jahren gelesen. Über manchen Brief habe ich mich vor zwanzig Jahren geärgert oder gefreut. Manches hebe ich auf. Aber ganz vieles werfe ich weg. Ich brauche es nicht mehr. Und ein anderer braucht es schon gar nicht. Erinnerungen. Warme, wehe. Bilder von damals. Das war ich? Bin ich heute noch derselbe? Bin ich ein anderer? Der alte Kalauer tanzt durch meinen Kopf: Merkwürdig, dass man auf den ältesten Bildern immer am jüngsten aussieht … Und plötz-lich ist da ein Karton mit ganz alten Briefen. Liebesbriefe aller Art. Von Freunden. Von der Freundin. Manche der Freunde leben längst nicht mehr. Ich beginne zu lesen. Und stelle den Karton wieder weg. Nein, dafür reicht heute die Zeit einfach nicht. Später. Wenn ich mehr Zeit habe. Haben sollte … Jedenfalls wandern diese Briefe nicht in den Papiercontainer. Noch nicht … Aufräumen tut gut. Das Leben entrümpeln. Den Kopf und die Seele. Erinnerungen entsorgen. Ich habe sie im Kopf und im Herzen. Ich brauche sie nicht auf vergilbendem Papier. Und irgendwie gilt für Papier wohl das Gleiche, was für Klamotten gilt: Was du seit zwei Jahren nicht mehr in der Hand hattest, ziehst du auch nicht mehr an. Du hast es nicht mehr gebraucht. Du wirst es wohl auch künftig nicht brauchen. Höchstens zum Zeigen. Aber wer will das schon sehen! Nach dem Aufräumen sind die Regale leerer, die Schränke, der Kopf, die Seele. Herrscht wieder ein bisschen Ordnung. Übersichtlichkeit. Weiss ich wieder, wo alles ist. Und was das ist: Alles. Jedenfalls ist das Alles von heute weniger als das Alles von gestern und vorgestern. Und das ist gut. Aufräumen befreit. Schafft Platz für anderes, Neues. Ich treffe meine alten Sendungsmanuskripte, Zeitschriftenartikel, Zeitansagen. Was habe ich nicht alles geschrieben in all den Jahren! All das hatte seine Zeit. Schön, den alten Sätzen und Gedanken noch einmal zu begegnen. Aber sie leben nicht mehr.

Aufräumen tut gut. Aufräumen tut aber auch weh. Ist ein bisschen wie Sterben. Das wirklich Wichtige hebe ich auf, klar. Die Bücher mit den persönlichen Widmungen, die meinem Leben einen besonderen Schubs gegeben haben. Die Briefe der Menschen, die mein Leben eine Wegstrecke lang begleitet haben, die diese Wegstrecke geprägt haben. Manches werde ich noch einmal in Ruhe bedenken. Manches Stück Leben in Gedanken noch einmal leben. Und mich fragen: Was ist geblieben? Von Menschen, von Texten, von Gedanken? Was ist von mir geblieben? Bei den anderen? Ein Wort? Ein Lied? Ein Buch? Eine Begegnung? Wenn ein anderer sein Leben aufräumt, was wird er dann wohl von mir behalten mögen? Und was wird er lässig entsorgen? Was behält Bedeutung über den Tag hinaus?

Auszug
Das kannte ich bisher nur aus Filmen: Der Alte packt seine Siebensachen in Säcke und Tüten, Kisten und Kästen, hebt die Bilder von den Wänden, schüttet all das, was in den Schubladen schlummert, in leere Schuhkartons, kontrolliert noch mal jeden Winkel, trägt alles ins Auto, schaut noch mal unsicher zurück, schüttelt die Hände der Kollegen, die ab sofort Ex-Kollegen sind, und fährt nach Hause. Obwohl er gerade nicht so genau weiss, was das ist.

Denn eigentlich hat er in seinem Büro mehr Zeit verbracht als in dem, was diesen Namen trotzig reklamiert: Zuhause. Auszug. Und Einzug. Dabei passt die eine Welt nicht so richtig in die andere. Zu wenig Platz. Zu wenig Vertrautheit. Die Bücher und Aktenordner aus den zwei Welten müssen sich erst aneinander gewöhnen. Werden sie? Heute war’s so weit. Für mich. Und das ist dann doch noch mal anders als in jedem Film. Ausziehen und einziehen und sich heimatlos und ausgestossen und verlassen fühlen. Ein paar Tage vor dem offiziellen Stabwechsel, weil ja noch geputzt und renoviert werden muss, bevor «der Neue» einzieht. Das Funkhaus war die eine Welt. Über einundvierzig Jahre lang. Ich wusste, wer ich war. Wem ich was zu sagen hatte, auf wen ich zu hören hatte. Alles hatte seinen Platz. Ich hatte meinen Platz. Ich kannte meine Aufgaben. Die geliebten und die ungeliebten. Ich setzte auf meine Stärken und überspielte meine Schwächen. Ich war – ja, war ich am Ende doch mehr meine Arbeit, als ich immer so kühn behauptet hatte? Meine Position. Mein Status. Mein Büro. Mein – ERF?

Vor ein paar Tagen blieb Helena, Mitarbeiterin in der Internationalen Abteilung, im Flur bei mir stehen, um mir zu sagen: «Ich habe für dich gebetet. Ich weiss jetzt, dass es für dich eine zweite Berufung gibt.» Die stille Helena. Ein Herz hatte sie sich fassen müssen, um mir das zu sagen. Gutgetan hat sie mir. Und nun? Nun stapeln sich die Kisten und Kästen in ihrer neuen Umgebung. Und ich weiss nicht so recht, wo ich alles unterbringen soll. Und ich weiss nicht so recht, wo ich mich unterbringen soll. Was auch eine schwierige Zeit für die Angetraute zu Hause ist. Die zweite Berufung? Gerade spüre ich sie so gar nicht. Gerade spüre ich gar nichts. Auch mich nicht. Was dadurch erschwert wird, dass ich gestern Abend beim Tanken mein Portemonnaie mit Bargeld und allen meinen Bank- und Kreditkarten verloren habe. Liegen gelassen? Gestohlen? Jedenfalls ist alles weg. Bleibt alles weg. Alles sperren, alles neu beantragen – und für ein paar Tage zahlungsunfähig sein. Das neue Leben beginnt mit leeren Taschen und Gefühlen …

Verwandte Seelen auf verwandten Wegen
Gute Wege mit Hanspeter. Zu Fuss und mit dem Rad. Leichte Gedanken, tiefe Gespräche. Zwei verwandte Seelen auf verwandten Strassen. Tastend ins Neuland. Eigentlich ist er mir ein bisschen voraus. Schon immer. An Jahren, ja. Aber auch an Ruhestandserfahrung. Seit Juni übt er dieses neue Leben ein. Und macht mir kräftig Mut: «Wenn das Ruhestand ist, dann fühlt sich das richtig gut an.» Nicht mehr müssen, aber noch ganz viel können. Dabei brauche ich im Moment gar keine Ermutigung. Die Tage auf dem Betberg sind licht und leicht. Meistens. Gestern haben wir darüber gesprochen, was wir mitbringen in diese neue Lebenslage. Eine spannende Frage. Ich habe mir eine Liste gemacht. Und war erstaunt, was da so alles aus meinem Kopf aufs Papier purzelte. Ein erstes Stichwort hat mir Hanspeter gegeben: Lebenswissen. Ein gutes rundes Wort. Lebenswissen. Das ist all das, was ich gelernt und erfahren habe. Alle Menschen und Bücher, alle Erfolge und Niederlagen. Alle Begegnungen und Trennungen, alle Lebensorte und Arbeitsplätze. Alles, was nur ich in dieser Kombination kenne und weiss.

Was ist mein Lebenswissen? Was kann ich damit anfangen? Wem kann ich damit nützlich sein? Mir ist noch viel mehr eingefallen.

Eine Auswahl:

  • Leitungserfahrung
  • Gute Gotteserfahrungen
  • Einen guten Namen
  • Ein grosses Herz
  • Leidensfähigkeit – wenigstens ein bisschen
  • Ein gutes Ende meiner Berufslaufbahn
  • Meine Musik, meine Gitarre
  • Verkündigungsaufträge
  • Buchaufträge
  • Neugier
  • Sehnsucht nach mehr
  • Eine ungebändigte Lust zu schreiben, zu kommunizieren
  • Mobilität und Flexibilität

Natürlich bringe ich auch Müdigkeit und Migräne mit, Angst und ein allzu dünnes Fell. Und ein ordentliches Pfund Selbstzweifel. Aber aus alldem lässt sich etwas machen. Aus alldem muss man noch etwas machen, solange Gott dazu die Gelegenheiten schenkt.

Das Land der selbstgewählten Möglichkeiten
«Wie geht’s dir im Land der selbst gewählten Möglichkeiten?», begrüsst mich Rainer Kunick, pensionierter Pfarrer meiner Kirchengemeinde. Und strahlt dabei. Weil er weiss, wovon er redet. «Gut!», strahle ich zurück. Und ich weiss auch, wovon ich rede. Dann erzählen wir uns, womit wir gerade so beschäftigt sind. Was nicht wenig ist. Was wir aber komplett selbst gewählt haben. Na ja, mehr oder weniger. Du musst schon ständig auf der Hut sein. Immer wieder grinst dir jemand freundlich einschmeichelnd ins Ruhestandsgesicht: «Du hast doch jetzt Zeit.» Dabei verbirgt er verschämt hinter seinem Rücken ein kleines oder grosses Jobangebot. Das ist eine Chance. Aber es ist auch eine Gefahr. Du musst aufpassen, dass du nicht auf allzu viele neue Fremdbestimmungen hereinfällst. Auch wenn du das so gewöhnt bist seit Jahrzehnten. Denn dann wird dein gerade erobertes Freiheitsland schnell zum Hoheitsgebiet wohlmeinender Mitmenschen. Du musst dich engagieren, klar. Aber auf selbst gewählten Feldern. Prüfen, prüfen, prüfen musst du. Nicht gleich zusagen. Vor allem nicht zwischen Angel und Tür. Ich weiss, wovon ich rede. Das kleine Wörtchen «Nein» ist mir noch nie leicht über die Lippen gekommen. Warum sollte es jetzt leichter fallen? Aber ich übe. Noch am vergangenen Sonntag hatte einer eine, wie er fand, «hervorragende Idee», die mich viele Tage im Jahr gekostet hätte. Ich wusste gleich, dass ich nicht wollte. Vor allem auch, Pardon, nicht mit ihm wollte. Das wäre nichts geworden. Erst habe ich ihn hingehalten. Habe meinen vollen Terminkalender bemüht. Ihn um Bedenkzeit gebeten. Aufschieben und aussitzen aber löst nur selten ein Problem. Vor allem, wenn man längst weiss, was man will. Und was nicht. Also habe ich’s ihm ein paar Minuten später klar gesagt: «Sei mir nicht böse, aber ich will nicht.» Er war ein bisschen böse. Klar. Aber ich war ein bisschen stolz. Ich hatte Nein gesagt. Ohne Begründung. Und ohne schlechtes Gewissen. «Nein» ist ein ganzer Satz, hat mal jemand gesagt.

Das Land der selbst gewählten Möglichkeiten sieht aktuell so aus: schreiben, lesen, Gitarre üben, organisieren, planen, einkaufen, kochen, Beziehungen auffrischen, sich bewegen … Die Tage sind gut gefüllt und nie langweilig. Manchmal frage ich mich, wie ich eigentlich bis vor ein paar Wochen noch zusätzlich mein Büro geschafft habe. Und den ERF. Und die Allianz. Und so. Klar, es geht alles ein bisschen langsamer, bedächtiger und bedachter, intensiver. Das Konzert, das ich am Donnerstag beim Frauenfrühstückstreffen in unserer Kreuzkirche geben darf, bereite ich erheblich ausführlicher vor, als ich das früher gemacht habe. Da übe ich das eine oder andere Lied neu ein. Denke mir zuweilen sogar eine neue Melodie aus, wenn mir die alte nie so richtig gefallen hat.

Probiere neue Pickings auf der Gitarre. Das musste «früher» alles eher nebenbei gehen. Ging ja auch. Irgendwie. Aber jetzt muss es das nicht mehr. Was mir guttut. Und meinen Zuhörerinnen und Zuhörern dann hoffentlich auch. Dieses Land der selbst gewählten Möglichkeiten ist ein buntes Abenteuerland. Ein Überraschungsland. Nicht mehr müssen müssen. Nur noch wollen wollen, können können, dürfen dürfen. Tut mir leid, ihr bedauernswerten Noch-Angestellten: Dieses neue Leben macht Spass. Es ist ja auch ein volles, ganzes, uneingeschränktes Leben. Nicht nur ein «Leben danach» … Fangt allerdings bitte rechtzeitig an, euch auf dieses Leben vorzubereiten. Erkundet die Möglichkeiten, zwischen denen ihr wählen wollt. Probiert schon jetzt aus, was euch ausfüllen und anderen Freude machen könnte. Es gibt sooo viel … Altes und – Neues.

 

Zur Person

Jürgen Werth, Jahrgang 1951, ist Journalist und Prediger, Buchautor und Fernsehmoderator, Wortmaler und Erzählsänger. Bis zu seinem Ruhestand war er langjähriger Chef von ERF Medien Deutschland.

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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