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Wenn das Herz Hände bekommt

streetchurch, die nahe Kirche
 
Publiziert: 19.10.2020

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2002 begann Markus Giger für die reformierte Kirche in Zürich seinen Dienst für die junge Generation. Seine Vision von Kirche ist: nahe bei den Menschen. So nah, wie Jesus den Menschen kam. Wahr, nah und annehmend. Egal woher die Menschen kommen, worin sie stecken oder was sie auf dem Kerbholz haben. So wurde aus dieser jungen Kirche die streetchurch. Ein Ort für junge Menschen, die Nähe und Hilfe erfahren.

Was ist die streetchurch und wie ist sie entstanden?
Die Reformierte Kirche Zürich hat vor 18 Jahren beschlossen, dass es Gottesdienste für die junge Generation geben soll in der Stadt Zürich. Nach dem Konfirmandenunterreicht gibt es häufig einen Bruch und die Jungen kommen nicht mehr in die Gottesdienste. Und doch besteht bei den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen ein so grosses Bedürfnis nach Antworten auf Sinnfragen und Austausch über ihre Probleme im Alltag. Die streetchurch arbeitet im multikulturellen Umfeld mitten in der Stadt Zürich. Sie orientiert sich am christlichen Menschenbild, das in jedem Menschen ein einmaliges Geschöpf Gottes sieht mit einem unermesslichen Wert und einer unantastbaren Würde.

Was sind die Angebote der streetchurch?
Zuallererst bieten wir ein Zuhause. Einen Ort, an dem die Menschen einfach angenommen sind und sie einfach sein können mit allem, was sie mitbringen. Wir leben Versöhnung. Menschen mit und ohne Bezug zur Kirche werden im Leben gestärkt. Menschen, die zu uns kommen, finden neue Kraft, Orientierung und Hoffnung. Sie lassen sich auf sich selbst ein und ihr Gegenüber und teilen und verarbeiten ihre Geschichten, Nöte und Sorgen. Es werden Beziehungen gebaut, in denen Vertrauen wachsen kann. Hier ist Jesus unser grösstes Vorbild. Er stellte überall Beziehungen und Nähe her und kümmerte sich in der Tiefe seines Herzens um die Nöte und Belange der Menschen.

Wir wollen mit allem, was wir tun, gesellschaftlich, familiär oder persönlich Entwurzelten ein Zuhause sein. Unser Angebot richtet sich insbesondere an Menschen, die herausgefordert sind bei der Arbeit, in der Ausbildung, eine Suchtproblematik haben oder straucheln mit dem Wohnen, dem Gesetz oder in Beziehungen. Unser Ziel ist, Menschen zu einem gelingenden Leben zu befähigen und ihnen neue Perspektiven zu vermitteln.

Mit Arbeitsintegration, Wohnprogrammen und Tagesstruktur finden die Menschen ihren Platz zurück in der Gesellschaft. Unsere Mitarbeitenden kümmern sich mit viel Herz und Engagement um «unsere Leute» und ermöglichen ihnen immer wieder neue Chancen.

Nicht immer einfach. Wie erreicht man heute als Kirche die Menschen?
Einzig und allein im Beziehungsrahmen. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen desensibilisiert sind auf die Institution Kirche. Aber unter den jungen Menschen ist ein grosses Interesse nach Sinngesprächen. Da sind Glaubensfragen – «wo ist Gott in meinem Leben?» – bis zur Theodizee-Frage.

In unserem kompletten diakonischen Angebot wie begleitetes Wohnen, Integration usw. geht es in erster Linie um Beziehungen. Und die hören nicht auf nach Beendigung des Programmes. Wir leben mit den uns anvertrauten Leuten, gehen in unserer Freizeit mit ihnen in die Ferien. Das ganzheitliche Verständnis von Nachfolge mit heilsamen, versöhnenden Beziehungen ist das, was die Menschen anzieht. Was Christus in die Welt gebracht hat, ist Versöhnung mit der eigenen Biografie und den Mitmenschen. Das ist auch der Fokus unserer Gemeinschaft und unser Ansinnen: Dass Menschen zu uns heimkommen und Versöhnung erleben können. Das geht so weit, dass die Teilnehmenden, die aus verschiedenen Gründen bei unseren Arbeits- oder Wohnprogrammen immer wieder aussteigen, sofort neue Chancen bekommen, um wieder einzusteigen. Selbst wenn es nicht mehr geht mit jemandem, weil er gewalttätig wird oder die Leistung im Arbeitsprogramm unter 50 Prozent fällt, erhält er beim Austritt sofort wieder einen Eintrittstermin mit Versöhnungsgespräch. Wir halten es wie beim Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lukas 15: Egal, was passiert, es gibt vielleicht einen Unterbruch, aber keinen Abbruch von Beziehungen.

Da sind wir bereits mitten in der Vision von streetchurch, wofür schlägt Euer Herz?
«Des Christen Fähigkeit ist fröhlich dem Elend zu begegnen und dem Nächsten zum Christus zu werden.» Das trifft es ziemlich. Wir sind als Christen «der Leib von Jesus». Menschen, die zu uns kommen und uns begegnen, begegnen Jesus in uns. Jesus kam dahin, wo Menschen in Not waren und gelitten haben. Er war nahbar, lebte Beziehungen mit den Menschen und institutionalisierte nichts. Alles war ausgerichtet auf die Gemeinschaft und das Miteinander. Die Menschen erkennen, dass wir als streetchurch ihre Bedürftigkeit wahrnehmen. Da, wo die Nähe zu den Menschen gelebt wird, da wird sich das ereignen, was sich auch bei Jesus ereignet hat. Er sendet uns in das Leiden der Welt, so wie er selbst in das Leid der Welt gesandt wurde. Das ist der Kern von all unseren Bestrebungen, allen Programmen und unserem Herzen.

Wohin wird sich, Ihrer Meinung nach, die Kirche mittel- und langfristig entwickeln?
Ich bin überzeugt, dass sich die Kirche in den nächsten Jahrzehnten zu der Gemeinschaft entwickeln wird, wie sie die frühen Christen lebten. Die Frage brennt: Wie hat Christus Gemeinschaft gelebt? In der Antwort liegt die Urform der Kirche. Ich glaube, dieser Wandel der Kirche wird noch chaotisch werden und ein hohes Mass an Strukturen benötigen, aber es wird auch zu einem Aufbruch führen, weil die Menschen sich zunehmend nach wahren Beziehungen sehnen. Nach Liebe und Annahme. Nach wahren und nahbaren Nachfolgern Jesu. Nach Jesus selbst.

 

Zur Person
Markus Giger, Jg. 1968, verheiratet mit Sibylle, zwei Teenager. Pfarrer der reformierten Jugendkirche streetchurch in Zürich und Gefängnisseelsorger für jugendliche Straftäter. Theologiestudium an der Universität Zürich.

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