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Dornenkrone als Zeichen für die Kreuzigung von Jesus
Dornenkrone (c) Isaradaeng/dreamstime

Schalom. Gott stiftet Frieden.

Ehrfurcht vor dem Leben
 
Publiziert: 18.03.2024

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Von Christoph Sigrist

Frieden. Ein Wort, das nicht so einfach zu fassen ist. Am Anfang der Arbeit am Frieden steht das Bewusstsein, dass wir «inmitten von Leben leben, das auch leben will». Wie gehen wir achtsam mit dem uns anvertrauten Leben um? Oft zerbrechen wir an dem eigenen Unvermögen, Frieden in unserem Umfeld zu schaffen. Doch es gibt Hoffnung, denn in unserem Unvermögen sagt Gott: «Und ich werde Frieden stiften.»

Im Januar wurde ich zu Beginn des Sabbats an einem Freitagabend in den Gottesdienst der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich eingeladen. Rabbiner Ruven Bar Ephraïm leitete die Feier. Er predigte. Er betete singend und sang betend. Er betete für den Frieden. Er dachte an die Opfer des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober 2023. Er bat für die Geiseln in Gaza. Und er bat um Frieden für die Bevölkerung in Gaza. Er betete: «Gott aller Geschöpfe, bitte nimm in Barmherzigkeit unser Gebet für die Nachkommen Adams und Chawas an, die unschuldig an jeglichem Verbrechen und Fehlverhalten sind, die sich in einem Krieg befinden und die um ihr Leben, um ein Stück Brot und einen Tropfen Wasser kämpfen müssen. Bitte beschütze die Unschuldigen und schenke ihren Körpern und Seelen Schutz und Gesundheit, damit sie so bald wie möglich in ihr Leben zurückkehren und ihr Zuhause wiederherstellen können. Bitte, Ewiger, unser Gott, bewahre uns davor, alle Bewohner von Gasa als Schuldige zu verurteilen, pflanze in unsere Herzen Liebe zu den Menschen und erinnere uns an die Frage unseres Vaters Awraham: <Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen?> (Be reschit 18,23) Denn es gibt Gerechte im Land, <doch der Weg der Frevler geht in die Irre> (Te hilim 1,6). <Und ich werde Frieden stiften im Land, und ihr werdet euch niederlegen, und nichts wird euch aufschrecken.> (Wajikra 26,6) Und so lass uns sprechen: Amen.» Seine Worte zogen uns alle in einen besonders gestimmten Raum voller klingender Stille. Sein Gesang weckte in uns brennende Solidarität mit unseren Nächsten von nah und fern. Wir Menschen krümmten mit unserem gemeinsamen Gebet gleichsam den Raum, in dem wir sassen, um die Opfer in Israel, in Gaza, in aller Welt. Aus dieser tiefen Gebets-Erfahrung gewinne ich wichtige Einsichten in die Friedensarbeit von uns Christinnen und Christen, zusammen mit allen Menschen jeglicher Religion und Kultur.

Gott aller Geschöpfe
Die Arbeit am Frieden liegt erstens darin, sich bewusst zu werden, dass ich leben will inmitten von Leben, das auch leben will. Diese Einsicht beschrieb Albert Schweitzer als «Ehrfurcht vor dem Leben». Ehrfurcht vor dem Leben heisst, furchtsam mit dem mir anvertrauten Leben umzugehen. Das geschieht in meinem vertrauten Haus, Hof und in meiner Familie. Dies soll auch im realen Dorf, wo ich lebe, und in der globalen Welt, in der alles Leben im gleichen Boot sitzt, getan werden. Die Friedensarbeit gilt auch in der digitalen Welt. Alles, was die Ehrfurcht vor dem uns geschenkten Leben zerstört, macht die Welt zur Hölle. Alle Geschöpfe sind von Gott geschaffen, alle Menschen sind Nachkommen Adams und Evas. Wer über diese fundamentalen, wahren Sätze antisemitische, islamphobische Parolen sprayt oder schmiert, schlägt Gott, dem Schöpfer allen Lebens, mitten ins Gesicht.

Nachkommen Adams und Evas, die unschuldig an jeglichem Verbrechen und Fehlverhalten sind
Die Arbeit am Frieden ist zweitens nicht neutral, sondern parteiisch. Wir schärfen mit unserem Glauben den Blick auf die Unschuldigen, die leiden, die vergewaltigt, geschändet und exekutiert, an den Pranger gestellt und ausgegrenzt werden. Die Formen der Gewalt und des Machtmissbrauchs sind vielfältig. Die Wirkung von beidem ist immer dieselbe: Leben wird getötet. Unser jüdisches Erbe liegt darin verborgen, dass es einen Gott gibt, nur einen. Dieser eine Gott solidarisiert sich mit dem Leid der Menschen. Er ist so hellhörig auf den Schrei des von der Gewalt versklavten Lebens, dass er sein Volk immer wieder aus der Sklaverei in ihrem Ägypten und uns Menschen aus dem Tod in unserer Sterblichkeit befreit. So erscheint Gott selbst für uns Glaubende im schmerzverzerrten Gesicht. Für den jüdischen Glauben spiegelt sich darin das Gesicht des Gottesknechtes, der unseren Schmerz auf sich genommen hat (Jesaja 53,4). Für unseren christlichen Glauben scheint in den nach Brot und Wasser schreienden Mündern das Gesicht Jesu Christi auf, der mit den Hungrigen und Dürstenden leidet (Matthäus 25,35-36).

Schenke den Körpern und Seelen Schutz und Gesundheit
Die Arbeit am Frieden ist drittens, Körper und Seele zu schützen. Die Sorge um die Seele und die Sorge um den Leib sind die zwei Seiten derselben Medaille. Das Sorgen füreinander geht nicht allein. Im Sorgen wird eine Gemeinschaft von Menschen geformt, die miteinander versuchen, Schutz und Gesundheit gemeinsam zu erarbeiten und zu ermöglichen. Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel sind Gedächtnis und Gewissen für solch sorgende Gemeinschaften. Caring Communities werden sie auch genannt. Einige Aspekte dieser Tätigkeit sind während des Lockdowns in der Pandemie offensichtlich geworden. Die sorgende Gemeinschaft nimmt die Nachbarschaft in den Blick. Sie geht von Tür zu Tür und fragt: «Was kann ich für dich tun?» Sie öffnet die Tür ins Haus und in die Seele. Sie wischt Sätze weg wie: «Wir machen alles selber. Ich habe alles im Griff! Was denken wohl die anderen über mich? Es ist besser, wenn unsere Not in unserer Familie bleibt und nicht nach aussen dringt.» Eine Gemeinschaft, die miteinander und füreinander sorgt, verbindet Menschen, die Hilfe brauchen, mit Menschen, die helfen. Dabei überraschen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft darin, dass sie beides sind: Hilfesuchende und Helfende. Auf Augenhöhe begegnen sie sich in ihrer Abhängigkeit und in ihren Freiheiten. Wenn Körper und Seele geschützt werden und gesunden, entdecken sie sich als Faden inmitten eines Netzes von unterschiedlichen Lebenswelten. Dieses Bild schenkte mir die jüdischen Philosophin Hannah Arendt. Das Bild des Netzes hilft mir, in meiner Friedensarbeit in der mir anvertrauten Gemeinschaft den roten Faden nicht zu verlieren. Rot ist der Faden wegen des Herzbluts der Liebe, das vergossen wird für die anderen. Zum sprichwörtlich roten Faden wird er, weil er unser Netz von Lebenswelten nicht nur untereinander verbindet. Der rote Faden verbindet auch die Erde mit dem Himmel. Deshalb verknüpft dieser besondere Faden meine Handwerksarbeit am Frieden mit meinem täglichen Gebet für den Frieden. Beides, beten und arbeiten, sind die beiden Seiten derselben Tätigkeit, immer wieder mit dem Frieden in meinen mir anvertrauten Lebenswelten anzufangen.

Bewahre uns davor, die Bewohnerinnen und Bewohner in Gaza als Schuldige zu verurteilen
Die Arbeit am Frieden besteht viertens darin, Unschuldige nicht als schuldig zu verurteilen. Darin schwingt eine besonders fragile Haltung von Achtsamkeit mit. Ich habe mich besonders darin zu achten, wie schnell ich Menschen verurteile. Allzu leicht beeinflussen mich Bilder über Menschen oder Menschengruppen. Diese Bilder prägen mein Denken und mein Verhalten. Wir Christinnen und Christen haben hier mit unseren jüdischen Geschwistern gemeinsam, das zweite Gebot der Zehn Gebote als unseren ethischen Kompass einzusetzen. Mose hat die Gebote nach der biblischen Erzählung auf dem Berg während jahrzehntelanger Wüstenzeit aufgeschrieben: «Du sollst dir kein Gottesbild machen.» (2. Mose 20,4) Darin schwingt die Glaubenswahrheit, dass jedes Bild von Gott, das wir malen, «Gott» nie ganz erfassen kann. Gott kommt vom mittelhochdeutschen Wort «ghuto» und kann als «das Angerufene» übersetzt werden. Demnach ist das, der oder die ich anrufe, immer noch ganz anders, als ich es mir mit den schönsten Farben ausmalen kann. Wenn Adam und Eva in der biblischen Schöpfungsgeschichte als «Ebenbild Gottes» beschrieben werden, gilt demnach diese Freiheit von jeglichem Bild auch vom Menschen. Niemand soll aufgrund eines Bildes oder Vorurteils verurteilt werden, denn er kann immer noch ganz anders sein oder anders werden. Die Freiheit, immer umzukehren, immer anders zu sein, ist dem Menschen in der DNA des Menschseins mitgegeben. Dieses Erbe des jüdischen Glaubens hat Jesus als Rabbiner konsequent gelehrt und gelebt. Deshalb ist nach Dorothee Sölle ein Name von Jesus «Andersheit». Die Verurteilung von unschuldigen Menschen, weil sie einer Religion, einer Glaubensüberzeugung oder einer Kultur angehören, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch unchristlich, auch wenn diese Verurteilung im Namen Gottes oder im Namen Jesu Christi immer wieder geschieht. Diese Wahrheit des Friedens gilt für den interreligiösen Dialog genauso wie für die Begegnung zwischen den Konfessionen oder zwischen Freikirchen und Landeskirchen.

«Und ich werde Frieden stiften»
Die Arbeit am Frieden heisst fünftens und zuallererst, all unsere Fragen bezüglich des Friedens in diese Klammer der Zusage Gottes zu setzen: «Gott stiftet Frieden.» Fragen, die ich in Seelsorge und Diakonie, im Kirchenschiff und auf der Strasse, am Stubentisch und in der Beiz höre, sind: Wann hören all die Kriege endlich auf? Wo ist Gott angesichts des Terrors der Hamas oder des Elends in Gaza, in der Ukraine, im Sudan, in Bergkarabach, in Myanmar? Wo finde ich Frieden, wo beginnt er? In meiner Seele, im Herzen, in der Familie? In der Gemeinde, im Dorf, im Land, in unserer Welt? Und wie können wir den Gruss Jesu «Friede sei mit dir» fassen inmitten von Druck, Stress, Überforderung und Beschämung? Was bedeutet der Anspruch Jesu in der Bergpredigt «Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen» (Matthäus 5,44)? Ist das nicht zynisch, wenn ich mitten im Krieg kämpfen muss oder sterbe? Ist dies nicht eine heillose Überforderung, wenn ich schon am Anspruch, für meinen Freund zu beten, der mich enttäuscht und verletzt hat, scheitere?

Der Anspruch des Friedens droht immer, mich zu überfordern, an meinem eigenen Unvermögen zu zerbrechen. Erst wenn ich aus der Vogelperspektive diese «göttliche Klammer» entdecke, erahne ich, dass mein verklemmtes Verhältnis zu meiner Art, Frieden zu stiften, aufgehoben ist im Klang seiner Worte: «Und ich werde Frieden stiften.» In diesem Klang stellt sich überraschend eine unglaubliche Resonanz ein für die Schwingungen von Frieden in mir und um mich. Aus diesem Schwingen heraus hat wohl der Prediger vom Berg den Mut gewonnen, das Lied dieses gestifteten Friedens zu komponieren und immer wieder anzustimmen. Er bezahlte dafür mit dem Leben am Kreuz.

Wir Christinnen und Christen erinnern uns an Karfreitag besonders an diesen «Zahltag» Jesu für uns. Wir entdecken mit unserem Glauben jeden Tag neu – an Ostern vielleicht mehr als sonst – etwas von dieser Wahrheit, dass Gott für seine Welt den Frieden gestiftet hat, stiftet und immer wieder stiften wird. Gott stiftet Frieden. Was hindert uns daran, dasselbe zu tun und Frieden zu stiften sowie uns alle als Söhne und Töchter Gottes zu entdecken (Matthäus 5,9)?

 

Zur Person
Pfarrer Christoph Sigrist blickt auf eine intensive, vielseitige Karriere als Pfarrer, Armeeseelsorger, Dozent, Stiftungsrat und vieles mehr zurück (www.christoph-sigrist.ch). Sein Herz schlägt immer für den Willen Gottes und für den Nächsten, der ihm in seiner Not anvertraut wurde.

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