Von Markus Müller
Schön, denke ich immer mal wieder, wenn das Thema auf Werte kommt. Was doch Menschen alles für wertvoll erachten, vielleicht sogar wünschen, manchmal fordern: Ehrlichkeit, Respekt, Aufrichtigkeit, Offenheit, Fairness, Würde, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Dankbarkeit, Demut, Toleranz, Solidarität, Zuverlässigkeit … Besonders unwohl fühle ich mich immer dann, wenn statt von einer Werteverschiebung gleich von aktuellem «Werteverfall », «Wertezerfall» und «Werteverlust » geredet wird. Im schlechtesten Fall will ich nichts mehr von Werten wissen, obwohl ich im selben Moment merke, dass ich eben gerade auch gewertet habe.
Ein verflixtes Ding also, diese Werte. So vieles im Zusammenhang mit genannten und vielen anderen Werten finde ich zwar gut, merke aber, dass sie trotz Richtigkeit nur sehr begrenzt Kraft in sich tragen. Wird die Zitrone gepresst bzw. kommen Menschen in schwierige Situationen oder Engpässe, so sind Werte, die sie sonst zu Zeit und Unzeit hochgehalten haben, plötzlich wie weggeblasen. Werden Menschen frustriert, so ist Dankbarkeit wie ein Fremdwort, geraten sie in Bedrängnis, so verflüchtigt sich der Respekt und die Ehrlichkeit wie der Nebel an einem schönen Herbstmorgen, und stört sie das Verhalten eines andern Menschen wirklich, so verdunstet das mit der Toleranz von einem Augenblick auf den andern. Nicht so verheissungsvoll also, diese Sache mit den Werten.
Und dann kam der Moment, als ich auf Chrischona (damals Pilgermission St. Chrischona) ein Referat zu Wertefragen halten musste, sollte oder durfte. Mir war klar: Jetzt musste ich etwas finden, das einleuchtend, einsichtig, einprägsam, einfach und tauglich für Planung, Entscheidung, Leitung, Denken und Leben ist. Unter diesem selbstauferlegten Druck fragte ich mich, was Menschen für mich attraktiv macht bzw. welche Merkmale Menschen haben, denen ich mich gerne anschliesse. Das Ergebnis: Es waren fünf Stichworte, die mir selber bis zum heutigen Tag helfen, mein Leben zu führen, meine Beziehungen zu gestalten, meine Entscheidungen zu treffen, meine Planungen vorzunehmen. Es sind die 5 Vs, die mich letztlich leiten und die ich in Unsicherheiten immer mal wieder beiziehe, um mein Tun und Lassen zu überprüfen.
Die Fragen lauten: Stifte ich mit meinem Denken, Reden und Handeln Vertrauen? Ist mein Tun geprägt von Verantwortung (also mit Blick auf die Konsequenzen, die mein Tun hat)? Zielt das, was ich tue, auf Versöhnung (statt Vorwurf, Rache und Streit)? Ist Voraussicht Selbstverständlichkeit (statt nur «Rück-Sicht»)? Und: Klingt in allem Denken und Tun etwas von Verfügbarkeit an (statt lediglich egoistischer Nutzen für mich selber)? Diesen fünf Leitinstanzen oder Leitwerten soll im Folgenden etwas nachgespürt werden. Für mich ergibt sich daraus so etwas wie ein Rahmen, ein Gefäss oder ein Flussbett, in dem sich ein Klima von Hoffnung, von Wahrheit und von Barmherzigkeit – so ein Milieu im Sinne von Kultur erwarte ich eigentlich unter Christen – entfaltet. Diese 5 Vs sind wie der Schutzraum für Hoffnung, Wahrheit und Barmherzigkeit. Was also verstehen wir unter Vertrauen, Verantwortung, Versöhnung, Voraussicht, Verfügbarkeit?
Vertrauen
Vertrauen ist wie die Luft, die jeder zum Atmen und Leben braucht. Es ist die seelische Musik, die mich zum Auf- und Durchatmen bringt. Der Mensch, der kein Vertrauen bekommt, und der Mensch, von dem kein Vertrauen ausgeht, erstickt. Und er bringt das Umfeld zum Ersticken. Menschen spüren, ob man ihnen vertrauensvoll oder mit Misstrauen begegnet. Vertrauen heisst, dem andern das Gute zuzutrauen und das Gute zu unterschieben. Vertrauen heisst, Gutes zum Anderen und über den Anderen zu sagen. Vertrauen steht da «wie eine Kapelle unter Wolkenkratzern», sagte mal jemand. Vertrauen ist der Garant von Wärme, wo die Kälte Oberhand zu gewinnen droht. Völlig klar: Mit dem Kriterium «Vertrauensstiftung » oder aber «Vertrauensminderung » habe ich ein ganz wesentliches Kriterium zur Hand für das, was ich sage, wie ich handle und woran ich mein Entscheiden überprüfe. Kann und will und werde ich den Vertrauenstank unter uns anfüllen oder werde ich ihn mit meinem Denken, Reden und Tun aussaugen?
Verantwortung
Verantwortung heisst, dass ich für das gerade stehe, was ich denke, fühle, rede, lebe und tue. Der marxistische Bazillus, der einseitig den Umständen die Schuld gibt, und der freudianische Bazillus, der einseitig der Vergangenheit die Schuld für alles Nicht-Geglückte in die Schuhe schiebt, werden im Raum von wahrgenommener Verantwortung definitiv entmachtet. Wo ich Verantwortung wahrnehme, da nutze ich die Freiheit, für mich und mein Tun geradezustehen – mit und ohne kurzfristigen Gewinn. Verbocke ich etwas, dann stehe ich in besonderer Weise dazu. Rechenschaft – sie ist die Zwillingsschwester von Verantwortung – gebe ich mir, meinem Umfeld und Gott gegenüber für das, was ich tue, und für das, was ich unterlasse. Was für eine Wohltat für andere und für diese Welt: Da steht einer zu dem, was er ist und tut und nicht tut – unmaskiert. Fragen wir einen Moment lang etwas tiefer, dann merken wir, dass es zwei Grundausrichtungen unseres ethischen und moralischen Handelns gibt. Zum einen ist es die Gesinnung und zum andern die Verantwortung. Merkmal der Gesinnung ist, so hat uns vor 100 Jahren Max Weber gelehrt, die Überzeugung für die Richtigkeit einer bestimmten Art zu reden oder zu handeln – egal, welche Folgen dies hat. Ganz anders bei der Verantwortung: Sie fragt nämlich nach den kurz- und langfristigen Folgen meines Denkens, Redens, Planens, Entscheidens und Tuns. Ganz konkret: Als Arzt oder Lehrer oder Politiker oder Altenheimseelsorger überprüfe ich, welche Folgen mein Tun und Unterlassen, mein Reden oder Schweigen hat. Alles hat Folgen. Ein Mensch, der diese Folgen beachtet, ist ein verantwortlicher Mensch, ein Mensch auch, dem man in der Folge gerne Verantwortung übergibt.
Versöhnung
Versöhnung heisst, dass wir die Dinge, die wir – andern Menschen gegenüber, uns selber gegenüber, der Welt gegenüber, Gott gegenüber – verbockt haben, in Ordnung bringen und nicht einfach stehen lassen. Wir alle machen Fehler. Es ist ein Zeichen von Mündigkeit, wenn wir zu diesen Fehlern stehen, uns zu Schuld bekennen und mit eigener, aber auch fremder Schuld, mündig umgehen und so zu Klärung und
Transparenz führen. Die meisten Menschen wissen und spüren intuitiv, wenn sie mit sich oder andern Menschen unversöhnt leben. Ich selber habe mir vor einigen Jahren vorgenommen, nie länger als 14 Tage lang in einem spürbar unversöhnten Zustand mit irgendeiner Person zu stehen. Wo ich also spüre, dass etwas zwischen mir und anderen Menschen (oder Gott) sein könnte, gehe ich auf den andern zu und frage, ob der Andere das auch so empfindet. Wenn dann ein Ja kommt, beginnt meistens ein spannendes Gespräch. Je länger ich allerdings in so einem Fall mit Nachfragen zuwarte, desto schwieriger wird es mit mir und dem Anderen.
Voraussicht
Voraussicht hat mit dem Wörtchen «sehen » zu tun. Sehen ist das häufigste Verb in der Bibel. Interessant, dass es besonders dort vorkommt, wo es um die Zukunft geht. «Siehst Du schon?» liegt an so vielen Stellen in der Luft. Siehst Du schon, wie Vergängliches zerbricht und vergeht, und siehst Du schon, was sich von dem, was Gott vorschwebt, ereignet? Beispiel: Dass Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und der Krieg nicht mehr gelernt wird (Jesaja 2,2–4), oder dass Tränen abgewischt werden und Schmerz Linderung erfährt (Offenbarung 21,3–4). Voraussicht heisst zu sehen und abzuwägen, was in fünf, zehn oder zwanzig Jahren kommen wird. Ein voraussichtiger Mensch ist ein Mensch, der sich auf die kommenden 20 oder 30 Jahre einstellt und der heute das lernt, was er morgen braucht. Was für ein Vorrecht, mit Menschen unterwegs sein zu dürfen, die angstfrei die kommenden Jahre und Jahrzehnte vor Augen haben, das Wesentliche sehen und das ntscheidende tun! Es sind Menschen, die nicht nur das Schwierige von heute und morgen, sondern die Weite und die Chance von bermorgen im Blick haben. Verfügbarkeit Verfügbarkeit meint die Bereitschaft, es zu wagen, Gott und Menschen gegenüber zu sagen: «Du darfst mich haben». Verfügbarkeit ist das Gegengift zu aller Abgrenzung und Sorge um mich selber. Ein Mensch, der nicht im Grundgefühl lebt, möglicherweise zu kurz zu kommen, ist eine Wohltat für seine Umwelt. Verfügbarkeit heisst: Für mich ist gesorgt, denn Gott, dem ich mein Leben anvertraut habe, sorgt tatsächlich und ganz praktisch für mich. Deshalb kann ich nicht zu kurz kommen. Und deshalb kann ich mich verschenken, letztlich und zutiefst in den Fussstapfen dessen, der in der Hingabe an den lebendigen Gott sein Leben liess, Jesus selber. Wieso nicht einfach üben? In der Tat gibt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts viel zu lernen und zu üben. Die kommenden 70 Jahre werden nicht sein wie die vergangenen 70 Jahre. Gesunde Werte, etwa die 5 Vs, ermöglichen Einzigartiges. Vom Milieu und der Kultur von Hoffnung, Wahrheit und Barmherzigkeit war schon die Rede. Was nun setzen diese Werte voraus, um wirklich kraftvoll für mein Denken, Reden, Entscheiden, Führen, Planen zu sein? Ich glaube, es ist ganz schlicht die Verankerung in dem, was nicht nur uns Menschen, sondern dem lebendigen Gott vorschwebt. Christen nennen das, was Gott vorschwebt, Verheissungen. Werte, die von hier her getragen und genährt sind, erweisen sich als unsagbar wertvoll. Es geht weit über alles Beklagen von unsinnigem Werteverfall und Wertezerfall hinaus. Ein echtes Abenteuer, so und in genannten Werten zu leben.