Von Martin Schleske
«Ich, die Weisheit, bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fliessen. Als er dieGrundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm. Ich war seine Lust täglich und spielte vorihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. Wohldem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich. Wer mich findet, der findetdas Leben.» (aus Sprüche Kapitel 8)
Der glückliche Fund
Als Geigenbauer bringe ich nur das gewachsene Holz zum Klingen. Ich mache es nicht. Es ist alles schon da. Ich höre das Rauschen der Fasern unter dem Hobel und sehe deren Glanz unter der Ziehklinge, und wenn ich unter dem Mikroskop auch nur eine einzige Tracheide erforsche, muss ich unwillkürlich erschaudern. Was für eine Schönheit! Was für eine Architektur! Ich putze die Aussenwölbung eines Geigenbodens. Sein Holz ist 50 000 Jahre alt, es stammt aus einem Hochmoor Neuseelands. Vor Kurzem wurde es entdeckt. Auf eine beglückende Weise wird angesichts solch eines Schatzes im Acker das eigene Leben klein. Wir stellen uns zur Verfügung. Es soll etwas Gutes daraus werden. Das heisst Leben.
Die Instrumente werden mich überdauern, und es werden noch Generationen diese Geige spielen, wenn mein Leben längst seine Zäsur genommen hat, um in anderen Welten weiterzugehen. Was hier geschieht, ist wie eine vom Himmel begabte, unerlässliche Übung der Liebe auf das hin, was nach und nach noch kommen wird. Wie es im Matthäusevangelium (25,21) heisst: «Du bist im Geringen treu gewesen, geh nun ein, mein treuer Knecht, in meine Freude, ich will dich über Grösseres setzen.»
Eine über die Jahre gewiss gewordene Ahnung in mirsagt: Ich durchlebe und durchleide auch in meiner Arbeitden Klang, damit ich einmal an den himmlischen Werkbänkenan Instrumenten der von Welt zu Welt zunehmendenGottesherrlichkeit arbeiten kann. Gewiss werdeich Zeit für die Musik in den Sälen eines grösseren Lobpreiseshaben. Darum liebe ich das Kleine. Es ist in jedemArbeitsgang ein Werdegang der Vorfreude auf das Grosseund Eine zu spüren. Was für ein Wunder, Holzfasern miteinem derart urgewaltigen Alter in Händen zu spüren!
Glücksmomente im Geigenbau
Wenn das Instrument nach vielen hundert Stunden Werkstattarbeit dann zum ersten Mal in der kleinen Dachkapelle meiner Werkstatt erklingt, können Musiker sich häufig nicht gegen die Tränen wehren. Sie spüren im Klang eine Autorität, die sie konfrontiert, ergreift, erschüttert, tröstet und belebt. Und so beginnen sie, auf ihrem Instrument zu singen.
Wenige Tage nach Fertigstellung jenes Instrumentes wurde im Münchner Dom das Oratorium «Seligpreisungen» von Enjott Schneider uraufgeführt. Ingolf Turban spielte die Solostimme nicht auf seiner «Antonio Stradivari» (aus dem Jahr 1721), sondern auf jener neu erschaffenen Geige. Sie entfaltete ihre Flügel und strahlte wie eine klangliche Königin über den Chor und das Orchester. Sie wird sein zukünftiges Konzertinstrument sein. Die Klangfarben des Instrumentes sind meine Meisterschaft, die Grösse, Souveränität und Erhabenheit des Klanges aber verdanke ich jenem unfassbaren Holz.
Das Spiel der Weisheit
Die Adern auf der Unterseite des Baumblattes genauer zu betrachten, löst in mir unerwartet Herzklopfen aus: Ich schaue Gott in seiner Schöpfung zu und belausche seine Gedanken! Ich folge ihrer Idee nach, wie diese eine neue Art Geigendecke in mir anregenwill: verzweigte Adern, die das Zarte tragen. Was für wundervolle Partialschwingungen werden über den aufgespannten Membransegmenten entstehen! Erneut wird es ein akustisches Experiment sein. Aber es nicht versucht zu haben, wäre doch schlimmer, als daran zu scheitern.
Bezeugt nicht die Schöpfung in ihrer Vielfalt erneut und erneut den heiligen Forscher, der – wie es bei Hiob heisst – das Leben ergründet und von dem die Bibel sagt: «Der Geist Gottes erforscht alle Dinge, selbst die Tiefen der Gottheit.» (1. Korinther 2,10) Sind wir nicht auf Ehrfurcht gebietende Weise umgeben von Gott? Es ist wenig nötig, dass der Geist in uns wirken kann: Spiele! Und bleibe in diesem spielerischen Wissen: Die Weisheit ist gegenwärtig, sie ist da. Es ist eine Gnade, die uns beständig umgibt. Sie möchte unseren Glaubenspielen wie ein Musiker sein Instrument. Die Gnade ist der Musiker, unser Glaube das Instrument. Darum heisst «glauben» letztlich: Lass dich spielen!
Seit der Zeit der ersten Lieder
Die Psalmen sind Lieder der Seele, sie beginnen häufig mit den Worten: «Ein Lied. Ein Psalm Davids. Gott, mein Herz ist bereit, ich will singen und spielen. Wach auf, meine Seele!» (Psalm 108). Seit der Zeit der ersten Lieder ist in den Herzen der Menschen eine Ahnung davon erwacht, dass die wesentlichen Dinge des Lebens um ihrer selbst willen geschehen. Ihre Sprache verlangt Ohren der Liebe. Das ist es, was in ihren Liedern erklang. Es ist die gemeinsame Lobpreisung des Lebens.
Und so erwachte die Schönheit des Menschen inmitten der Ängste um das nackte Überleben. Nicht im Schrei des Gejagten, nicht in Kampf und Flucht, sondern in Tanz und Gesang erhob sich aus unserer Natur das Selbstwissen unserer Würde, dass wir mehr als Knechte des Zweckhaften sind: Die Menschwerdung des Geistes in der Entdeckung von Anbetung, Schönheit und Klang. Es war der Anfang unserer Kultur. Ihr Herz begann im Gesang zu beten: an jenem inneren Ort, an dem die Gebete gesprochen und gesungen werden, die der Himmel hören kann. Es ist der Ort, der unser Gebet in Liebe verwandelt. Dort wird die Verheissung wahr, dass die Seele nicht verwaist: Bete oder meditiere nicht, weil es dir irgendetwas nützt! Falle nicht hinter das erste Lied zurück! Sondern bete, weil es eine Sprache deiner Liebe ist.
Spiel des Lebens
Eines Morgens, während einer Gebetszeit, musste Jesus mir klarmachen, dass ich in einer latenten Lüge lebte, solang ich den Unterschied zwischen dem Nutzen und dem Sinn meines Lebens nicht begriffen hatte. Jener innere Dialog begann mit der Frage: Was fürchtest du dich so?
«Warum fürchtest du dich? Deine Furcht kommt daher, dass du auf deinem Weg zu schnell sein willst. Lass deine Seele an einer jeden Station deines Lebensweges nicht nur lernen, sondern spielen. Erst wenn du von Herzen spielerisch in den Dingen geworden bist, die du gelernt hast, hat deine Seele sie begriffen und ist gern bereit, weiterzugehen. Du verängstigst deine Seele und beraubst sie ihrer Fähigkeit, glücklich zu sein, wenn du ihr nicht erlaubst, spielerisch in den Dingen des Lebens zu sein.
An einer jeder Station – an jedem Lernschritt deines Lebens – habe ich ein Spielfeld angelegt. Du aber gehst harsch mit deiner Seele um. Du herrscht sie an wie ein Kind, sie solle weitergehen, obgleich sie im Begriff war, sich spielerisch und selbstvergessen in die Entdeckung des Neuen zu verlieren. Du zerrst sie weiter und sagst, es würde «nichts bringen», du glaubst, das Spiel würde deinen Weg verzögern. Dabei ist gerade das Spiel der erlernten Dinge die Freude deiner Seele.
Du hast über all deinem Wissen deine Weisheit verloren. Ohne Weisheit kann nichts schöpferisch sein. Alles Schöpferische ist wie das Spiel eines Kindes. Was nicht spielerisch war, bringt keine Frucht, denn es war nie wie ein Kind. Nur das Kind kann die Schönheit des Himmelreiches sehen. In eurem freudlosen Ernst glaubt ihr daran, man könne die wesentlichen Dinge «bauen» und «machen». Als hätte ich euch je erlaubt, das Reich Gottes zu «bauen». Siehst du nicht: Es wächst von selbst, du weisst nicht wie. Denn die Weisheit spielt vor mir, sie hat ihre Freude. Sieh hin! Ohne sie wurde keine Welt erschaffen, die je geworden ist.
Das Kind macht sich keine Gedanken, wo es sein sollte. Es ist da, wo es ist. Du aber bist von der Lüge des Weges bestimmt, denn du glaubst, dein Leben habe ein Weg zu sein, es habe ständig woanders zu sein, habe zügig und pünktlich, effizient und zielbewusst dabei zu sein. Dabei ist der Weg ein Spiel des Lebens. Du aber lässt dich nicht nieder. Schritt für Schritt deinen Weg zu gehen, bedeutet, freudig ein um das andere Spielfeld zu sehen, es zu betreten und mit je den neuen Dingen zu spielen, die du lernst. Wie oft kennst du weder den Verlauf noch die Mitspieler noch die Spielzeit, wenn du beginnst! Beginne zu spielen, und diese Dinge werden sich klären.
Du hast deine Seele in die Effizienz, aber nicht in die Freude geführt. In einer atemlosen Vernunft zwingst du deine Seele, nützlich zu sein, aber du hast sie nicht in die Weisheit geführt. Ich habe deine Seele anders erschaffen: Sie ist glücklich, wenn sie das Ihre gelernt hat; sie hat es gelernt, wenn sie darin spielerisch war; sie hat gespielt, wenn sie in der Freude war; ohne Freude hat sie nicht gelernt. Denn nicht der Nutzen, sondern die Freude ist das Glück der Seele.
Das dreifaltige Glück
Ich habe dich in einem Dreiklang aus Geist, Leib und Seele erschaffen und dich berufen, auf dein Glück zu achten:
Du hast in all deinem Ehrgeiz deine Seele zur Arbeitsmagd gemacht, aber du hast sie nicht in ihre Ruhe geführt und sie nicht als meine Geliebte geehrt. Du hast deine Seele verängstigt, sie blass und blutarm zu mir gebracht. Ohne Freude und fast nicht mehr am Leben kommst du an – und willst mir dann dein Leben zeigen? Ich sehe kein Leben; ich sehe die Ausbeutung einer leblosen Seele; da ist keine Freude, nur der Ehrgeiz eines lügenhaft getriebenen Geistes, der mir ächzend vorzuweisen sucht, wie weit er gekommen ist.
Du hast nicht begriffen, wer ich bin. Ich habe keine Freude an den Dingen, die du mir vorweisen kannst, sondern an den Dingen, die deine Freude waren. Ich sehe nicht deinen Erfolg, sondern dein Spiel.
Geh nicht gleich weiter, sondern werde glücklich in den Dingen, die du gelernt hast. Denn deine Freude zeigt, dass du darin spielerisch geworden bist wie ein Kind. Wenn du nicht wirst wie ein Kind, wirst du die Schönheit meiner Gedanken nicht sehen. Denn nur das Spiel des Kindes bewahrt dich davor, dein Leben zur Lüge zu machen.Was musst du erreichen? Du gibst dir Ziele vor und legst dir von Ehrgeiz, Sorgen und Vergleich getriebene Gedanken auf die Schultern, die nicht von mir sind, und machst dir so dein Leben schwer. Du glaubst, alles müsse etwas bringen, nichts dürfe um seiner selbst willen sein. Deine Lügen sind Lasten. Und dann kommst du zu mir und suchst <Entlastung>, anstatt dich von deinen Lügen zu bekehren?
Glaubst du, ich hätte die Welt erschaffen, damit sie etwas bringt? Habe ich sie nicht erschaffen, dass sie aus meiner Weisheit ein Spiel der Liebe, ein Spiel der Freude, ein Spiel des Lebens sei? Warum hast du nie darin geruht, nie darin verweilt, dich nie darin vergessen? Was bist du nie in der Freude des Lebens gewesen?
Wie sehr verängstigst du deine Seele, da sie ständig dem Nutzen dienen muss! Sie musste deiner Lüge dienen, musste dir zweckdienlich sein auf einem Weg, der von Argwohn und Vergleich, nicht aber die arglose Freude des Kindes war. Ich bin taub für dein künstliches Lob und deinen aufgesetzten Dank, es sei denn, es ist die dankbare Freude der Kinder und das Lob der Spielenden. Was musstest du eigentlich erreichen? Du bist weit gelaufen, aber nicht weit gekommen, denn du bist doch an einem jeden Ziel deiner Freude vorbeigelaufen. Darum kehre um. Und erlerne dein Glück.
Darum beginne, deine Seele in ihre Freude zu führen. Lass sie spielen, lass sie lernen. Schau ihr mit Freude zu, wie man Kindern beim Spielen zusieht, bei ihrem ausgelassenen Geschrei. Setz dich zu ihr und vergiss dich. Das bedeutet, dass du endlich mit dir selbst Frieden schliesst. Und so geh in die Anlehnung mit mir, habe Gemeinschaft mit mir, denn mein Name ist Ich-Bin. Ich vermisse dich sehr.»