Von Wolfgang Steinseifer
«Vertrauen ist die unverzichtbare Voraussetzung zwischenmenschlicher Beziehungen … Eine Gesellschaft ohne Vertrauen muss jedes Detail regeln und kontrollieren, deswegen geht sie irgendwann an den Kontrollkosten zugrunde.» Das behauptet jedenfalls die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Eine kühne These? Begleiten wir einmal einen vertrauensmässig unterbelichteten Zeitgenossen am Beginn eines neuen Tages.
Das nervende Piepsen des Weckers reisst Thomas D. aus seinen allnächtlichen Albträumen und liefert ihn einem weiteren Tag voller Unsicherheiten und Ängste aus. Ein Blick auf den roten Würfel mit dem weissen Kreuz – 6:30 zeigen die Digitalziffern an. Ob das stimmt? Ein ängstlicher Blick aus dem Fenster – ist es nicht schon verdächtig hell? Sind draussen nicht auffallend viele Leute unterwegs? Ob er das Radio anstellen soll? Aber kann er sich auf die Zeitansage der Leute von Radio SRF verlassen?
Irgendwann ist Thomas bereit, sich dem Frühstück zu widmen. Er setzt die Kaffeemaschine in Gang. Vorher überzeugt er sich mit Hilfe eines Spannungsprüfers, dass das Gehäuse nicht unter Strom steht. Schliesslich will er keinen tödlichen Stromschlag riskieren, wenn er die Bedienungsknöpfe berührt. Auf dem Weg zur Bushaltestelle fischt er die Tageszeitung aus seinem Briefkasten. Im Gehen blättert er bis zu den Todesanzeigen und überfliegt sie. Den Rest wirft er ungelesen in den Abfallkübel. Wie jeden Morgen. Warum soll er sich mit Informationen belasten, deren Wahrheitsgehalt er nicht nachprüfen kann? Die Journaille phantasiert sich bestimmt die Hälfte ihrer «Nachrichten» zusammen. Einer schreibt vom anderen ab, und der tumbe Pöbel glaubt das alles. Nein, er, Thomas, lässt sich nicht zum Narren halten.
Es dauert zehn Minuten, bis der Bus kommt. Thomas ist immer überpünktlich an der Haltestelle – und nimmt immer einen früheren Bus, als er eigentlich braucht. Wer garantiert ihm, dass der Fahrer den Fahrplan einhält? Da geht er lieber auf Nummer sicher.
Apropos Fahrer, wer ist das denn heute Morgen? Ah, ein Glück, den kennt er. Der ist in Ordnung. Mit einigem Unbehagen erinnert Thomas sich an den Zwischenfall vor einigen Wochen. Da hatte ein Kerl hinter dem Steuer gesessen, den er noch nie gesehen hatte. Ein Wildfremder! Gehörte der überhaupt zum Busunternehmen? Thomas war der kalte Schweiss ausgebrochen. Konnte er sich vertrauensselig einem völlig unbekannten Mann am Steuer ausliefern?
Wer nicht vertraut, hat’s schwer im Leben
Ach ja, er hat’s schwer im Leben, der «ungläubige Thomas». Und seine Leiden sind mit der Busfahrt am Morgen noch längst nicht zu Ende. An der Arbeitsstelle und nach Feierabend, im Haushalt und im Grossstadtdschungel – überall lauern auf ihn Gefahren. Nie weiss er, wem er vertrauen und worauf er sich verlassen kann.
Unser fiktiver Thomas D. wird irgendwann einmal die Hilfe eines Psychiaters oder einer psychiatrischen Einrichtung in Anspruch nehmen müssen, weil ihn sein paranoides Misstrauen und seine Angst total lebensunfähig machen. Um sich einigermassen sicher zu fühlen, müsste er ja alles überwachen und überprüfen können. Er müsste sich – die Amerikaner lassen grüssen – seine ganz persönliche NSA halten. Die müsste ihn mit all den Informationen füttern, die er braucht, um sein Leben einigermassen angstfrei und ohne Albträume zu bewältigen. Und dann müsste er auch noch in der Lage sein, all diese Informationen zu verstehen und zu verdauen. Müsste, müsste, müsste …
In Wirklichkeit kommen kein Mensch, keine Gesellschaft, keine Wirtschaft ohne Vertrauen aus. Weil niemand alles weiss, alles kann, alles beherrscht, ist jeder darauf angewiesen, dass er sich auf andere verlassen kann. Die meisten Menschen tun das auch, oft ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Wir vertrauen in der Regel unserer Ärztin und unserem Coiffeur, dem anderen Strassenverkehrsteilnehmer und dem Polizisten, der Buschauffeuse und dem Piloten. Gewiss, es gibt da Abstufungen, und auf der Rangliste derer, die wir als «vertrauenswürdig» einstufen, gibt es ein ständiges Auf und Ab. Je nachdem, welche Ereignisse die Öffentlichkeit gerade empören, sind unsere «Vertrauensaktien» enormen Kursschwankungen ausgesetzt.
So stehen gegenwärtig zum Beispiel Banker vertrauensmässig nicht sehr hoch im Kurs, weil einige von ihnen durch zweifelhafte Geschäfte den Ruf der Banken nachhaltig beschädigt haben. Mithilfe bei Steuerbetrug, Liborskandal, Manipulationen am Devisenmarkt … Unter diesen Skandalen müssen auch die vielen anständigen Bankangestellten leiden.
United Bandits of Switzerland
«Vertrauen ist eine flüchtige Währung.» So beklagte sogar die nicht eben als wirtschafts- und bankenkritisch bekannte Neue Zürcher Zeitung am 2. November 2013 den Vertrauenscrash, den gewisse Banken durch ihre Manipulationen am Devisenmarkt verschuldet hatten. 2 Wenn selbst die NZZ feststellt, dass sich das Vertrauen in die Banken «verflüchtigt», klingt es fast makaber, wenn z. B. die Credit Suisse auf ihrer Website vollmundig verkündet: «Vertrauen ist das Fundament unseres Geschäftserfolgs» 3 Und wie tief muss die Glaubwürdigkeitskrise sein, in der sich die Banken befinden, wenn böse Zungen die Marke «UBS» ungestraft mit «United Bandits of Switzerland» übersetzen.
Der bekannte St. Galler Soziologe Peter Gross führte bereits 2009 in einem Vortrag zum Thema «Vertrauen in einer instabilen Zeit» aus: «Vertrauen schwindet zur Zeit in einem beunruhigenden Ausmass. Nicht nur in die Börsen und die Banken. Und nicht nur in die Medien und die Politik. Sondern angesichts der neuesten Steueraffären in unser System und ihre Exponenten insgesamt. Dafür grassiert Misstrauen … Laut einer Studie des Schweizerischen Gottlieb-Duttweiler Instituts hat das Vertrauen der Schweizer in ihre Mitmenschen einen historischen Tiefpunkt erreicht. Nur noch knapp die Hälfte der Befragten glaubt, man könne den meisten glauben … Wenn, wie immer betont, Vertrauen die Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft bildet, steht die moderne Gesellschaft vor einem Kollaps. Denn ohne Vertrauen scheint nichts zu gehen.» 4
Eine Gesellschaft, in der man einander nicht mehr vertrauen kann und in der wichtige Institutionen das Vertrauen verspielt haben – eine solche Gesellschaft gleicht einem Haus, zwischen dessen Bausteinen der Mörtel zerbröselt oder das deshalb seine Stabilität verliert. Früher oder später kommt der von Peter Gross befürchtete «Kollaps».
Vertrauen gründet sich auf Treue
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von «Vertrauen» sprechen? Unser deutsches Wort «Vertrauen» ist sprachgeschichtlich verwandt mit «Treue», und «Treue» geht auf das alte Wort «triuwe» zurück, was eigentlich «stark, fest wie ein Baum» bedeutet. Zum Vertrauen gehört als Gegenüber die Treue.
«Vertrauen ist das feste Überzeugtsein von der Verlässlichkeit / Zuverlässigkeit [Treue] jemandes bzw. einer Sache», definiert der Duden das Wort. Vertrauen ist also nur da begründet und gerechtfertigt, wo die Person oder die Institution, der man vertraut, treu (verlässlich, zuverlässig, wahrhaftig, redlich …) ist.
Wir sind als einzelne Menschen und als Gesellschaft einander «auf Treu und Glauben» ausgeliefert. Wir müssen auf die Treue (Zuverlässigkeit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit …) anderer vertrauen können. Und, wie schon gesagt, in unserem Alltag funktioniert das ja auch meistens, ohne dass wir uns darüber überhaupt Rechenschaft ablegen. Genau deshalb ist ein Vertrauensbruch eine Katastrophe. Wenn nämlich Vertrauen auf persönlicher Ebene oder in grossem Stil missbraucht wird, fragen wir uns, was wir überhaupt noch glauben, wem wir überhaupt noch vertrauen können. Es herrschen auf einmal Unsicherheit, Misstrauen – und Angst.
Vertrauen ist alternativlos
Warum ist das so? Warum ist Vertrauen so wichtig? Mich selbst überzeugt die Antwort, die in der Bibel darauf gegeben wird: Vertrauen – und Treue – sind deshalb lebenswichtig für uns, weil Gott uns Menschen als begrenzte Wesen geschaffen hat, die ihn und einander brauchen. Wir sind weder allmächtig noch allwissend; wir haben nicht alles, was wir benötigen, und sind deshalb auf die Ergänzung durch Gott und unsere Mitmenschen angewiesen. Wenn das stimmt, müssen wir uns darauf verlassen können, dass die anderen es gut mit uns meinen. Wer als ergänzungsbedürftiger Mensch nicht vertrauen kann, versinkt in Misstrauen und Angst oder entwickelt als Überlebensstrategie Allmachtsphantasien («Die einzige Hand, auf die ich mich verlasse, hängt an meinem Arm»).
Das kommt eindrucksvoll in der Schöpfungsgeschichte auf den ersten Seiten der Bibel zum Ausdruck. Da wird erzählt, dass Gott, der allmächtige, ewige Schöpfer des Universums, als Abschluss seiner Schöpfung den Menschen erschafft – ein endliches, begrenztes Wesen aus «Erdenstaub». Durch den Schöpfergeist Gottes wird der «Erdling» (hebräisch «Adam») zu einem Lebewesen, das in einer einzigartigen Beziehung zu Gott leben soll und von Gott für grosse Aufgaben begabt wird. Dieser Mensch ist auf Gemeinschaft, Austausch und Partnerschaft angelegt («Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei»). Als Einzelner ist der Mensch also «nicht gut», weil unvollständig. Erst als Wesen, das in Beziehungen lebt, ist er ein ganzer Mensch, denn er hat die Ergänzung, auf die er angewiesen ist.
Beziehungen werden genährt vom Vertrauen, dass das Gegenüber treu und verlässlich und auf unser Wohl bedacht ist. Solches Vertrauen ist immer ein Wagnis, für das man sich entscheiden muss. Auch dies wird in der biblischen Schöpfungsgeschichte beschrieben: Gott beschenkt den Menschen mit einer unermesslich grossen Vielfalt («Von allen Früchten des Gartens darfst du essen»), aber er macht ihn auch auf die Grenze aufmerksam, die er als begrenztes Wesen respektieren soll («aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen darfst du nicht essen»). Wenn ich das richtig verstehe, sagt Gott damit: Du endlicher Mensch, es gibt Dinge, die deinen geistigen Horizont übersteigen und dich als Geschöpf überfordern. Dinge, die nur ich überschaue und beurteilen kann. Vertraust du mir, deinem unendlichen Schöpfer? Vertraust du mir, dass die Grenzen, die ich dir gesetzt habe, zu deinem Besten dienen, ja für dich lebensnotwendig sind?
Wer die Bibel kennt, weiss, wie es weitergeht. Der Mensch ist nicht damit zufrieden, als begrenztes Geschöpf auf Gott und auf die Ergänzung durch seine Mitmenschen angewiesen zu sein. Sein Misstrauen erwacht: Sollte Gott ihm am Ende das Wichtigste und Beste vorenthalten? Sollte Gott ein egoistischer Tyrann sein? Statt Gott zu vertrauen will er selbst alles wissen, selbst alles entscheiden, selbst «sein wie Gott». In seinem Allmachtswahn gleicht er einem Fisch, der aus dem Wasser an Land springt, um fortan auf dem Land zu leben, weil er nicht wahrhaben will, dass er nur in seinem Lebenselement, dem Wasser, leben kann.
Die Folgen sind verheerend. Ohne Vertrauen zu Gott lebt der Mensch nun in Angst vor Gott: Er versteckt sich vor Gott, statt sich an der Gemeinschaft mit ihm zu freuen. Und der Mitmensch, über den er vorher in kindlicher Freude gejubelt hat, wird zum Gegner und Feind, dem er misstraut und auf den er allzu gern eigene Schuld und eigenes Versagen abwälzt. Mit der Aufgabe des Vertrauens stirbt der Mensch als Beziehungswesen.
Vertrauen wagen
Das alles ist nachzulesen in den ersten drei Kapiteln der Bibel. Der ganze Rest der Bibel hat in gewisser Hinsicht ein grosses Thema: Wie Gott sich aufmacht, um die Herzen der Menschen, ihr Vertrauen und ihre Liebe, wieder für sich zu gewinnen. Die Geschichte der «vertrauensbildenden Massnahmen» Gottes gipfelt darin, dass Gott in der Person von Jesus Christus Mensch wird und sich bis hin zum Tod an einem römischen «Galgen» mit den Menschen identifiziert. Gott lebt mit den Menschen, leidet mit den Menschen, stirbt mit den Menschen und nimmt ihre Gottesfeindschaft und Gottesferne mit sich in den Tod. So beweist er ihnen seine Liebe und Treue, und so wirbt er um ihr Vertrauen.
Es geht dabei nicht um ein blindes Vertrauen, das Fragen und Zweifel abwürgt. Vertrauen entsteht aus gemeinsamen Erfahrungen, die man im Lauf der Zeit miteinander gemacht hat. Dazu gehört auch, dass Fragen und Zweifel ausgesprochen und ernst genommen werden. Zweifel sind die Feuerprobe, in der sich erweist, ob Vertrauen gerechtfertigt ist oder nicht. Das gilt für zwischenmenschliche Beziehungen wie für die Beziehung zu Gott. Die Bibel ist voll von Geschichten zweifelnder Menschen. Sie schwanken zwischen Vertrauen und Skepsis. Gott ermutigt sie, sich ehrlich mit ihren kritischen Fragen auseinanderzusetzen, statt sie «im geistigen Fusel der Religion zu ersäufen» (so der Vorwurf Lenins). Aber auch dann bleibt Vertrauen letztlich ein Wagnis. Sich jemandem anvertrauen bedeutet immer auch sich ihm ausliefern. Das fällt uns schon auf zwischenmenschlicher Ebene schwer. Da muss man einander gut kennen oder zumindest überzeugende Referenzen präsentiert bekommen. Wieviel schwerer ist es, einem Gott zu vertrauen, den man nicht sieht und der von vielen Mitmenschen für alles Schreckliche in der Welt verantwortlich gemacht wird.
Wir schaffen es nicht, Gott zu vertrauen? Das mag wohl sein. Aber wir können innerlich offen sein für eine persönliche Begegnung mit ihm. Gott hat versprochen, dass er uns dann tatsächlich entgegenkommen und uns von seiner Liebe und Treue überzeugen wird. Nicht selten mit Hilfe von Mitmenschen, die wir als vertrauenswürdig erlebt haben und denen wir glauben, was sie uns über ihre eigenen Erfahrungen mit Gott berichten.
Wer Gott so kennengelernt hat, ist damit nicht automatisch immun gegen Zweifel. Gottes Handeln wird ihm immer wieder einmal unbegreiflich erscheinen. Aber das Grundvertrauen in Gott wird auch Zeiten von Glaubenskrisen überstehen. Garant dafür ist nicht unser unbeschränktes Vertrauen, sondern Gottes Treue. Darauf vertraue ich.