Vor einigen Jahren wurde ich an einen Kongress nach Brasilien eingeladen, an dem sich Christen aus mehr als 120 Ländern und aus allen Kontinenten trafen. Geprägt durch Kultur und durch unterschiedliche Tradition hatte der Glaube an Jesus Christus in den verschiedenen Völkern unterschiedliche Ausdrucksformen angenommen. Verschieden waren die Antworten auf Fragen der Zeit. Verschieden und farbenfroh auch die Gestaltung der Gottesdienste. Doch etwas vereinte alle: Das «Vaterunser».
Ich kann die Gefühle gar nicht in Worte fassen, welche mich überkamen, wenn jeweils in über 120 Sprachen das Gebet der Christen gebetet wurde. Alle waren eins, alle waren auf den Einen ausgerichtet. Da war so eine Konzentration, so eine Kraft und so eine Präsenz aus der unsichtbaren Welt spürbar.
Auch in meiner Arbeit als Pfarrer hat mich das Vaterunser stets begleitet. Nicht nur in den Gottesdiensten, wo es am Ende immer gesprochen wird, sondern auch bei anderen Gelegenheiten. Unvergesslich bleibt mir dieses Erlebnis: Eine Person wollte noch von ihrem Liebsten Abschied nehmen, der gewaltsam ums Leben gekommen war. Als sie ihn sah, verschlug ihr der Schock die Sprache. Nach langer Schweigezeit fragte ich, ob ich noch das Vaterunser beten solle. Sie nickte. Ich fing an zu beten, plötzlich setzte sie mit ein. Zuerst schwach, flüsternd, kaum vernehmbar und dann immer kräftiger. Sie hatte durch dieses Gebet die Sprache wieder gefunden. Gerade in einer Zeit, in der sich so vieles verändert, braucht es Rituale und Formen, welche die Zeit überdauern.
Wie oft habe ich auch erlebt, dass man aus der Situation heraus keine eigenen Worte fand, um sich mit dem Himmel zu verbinden. So war es auch bei jener sterbenden Person: Ununterbrochen betete sie das Vaterunser, bis sie den letzten Atemzug tat.