Durch eine Typhuserkrankung war sie seit ihrem sechsten Lebensmonat linksseitig gelähmt. Mit grossem Eifer befolgte sie die fünf vorgeschriebenen Gebetszeiten und studierte täglich den Koran. Mit 16 Jahren entdeckte sie darin eine Stelle über Jesus, wo es heisst, dass er mit Allahs Erlaubnis Blinde und Aussätzige heilen und Tote auferwecken will. Fortan fügte sie den vorgeschriebenen Gebeten ihrer islamischen Tradition die Bitte hinzu: «Jesus, Sohn der Maria, heile mich.» Beinahe drei Jahre geschah nichts. Sie betete immer verzweifelter und aufdringlicher auch zwischen den obligatorischen Gebetszeiten.
Wie immer war sie um 03.00 Uhr für das erste Gebetsritual aufgewacht. An diesem Morgen hielt sie sich nicht an die übliche Gebetszeremonie, sondern bedrängte Jesus mit den Worten: «Wenn du kannst, dann heile mich – wenn nicht, dann sag es mir!» Das Zimmer wurde hell. Eine leuchtende Gestalt stand im Licht und sprach: «Steh auf! Ich bin Jesus, der Sohn der Maria, zu dem du gebetet hast.» Schluchzend antwortete sie: «Ich bin ein Krüppel. Ich kann nicht aufstehen.» Bei der dritten Aufforderung «Steh auf!», wagte sie es. Sie spürte, wie Kraft in ihre gelähmten Glieder floss, stand auf, trat auf Jesus zu und kniete nieder. Er legte seine Hand auf ihren Kopf. Nach kurzem Gespräch über ihre Zukunft sagte er: «Von nun an sollst du so beten: ‹Unser Vater im Himmel›.» Jesus liess die junge Frau die Worte des ganzen Vaterunser wiederholen, bis sie sich diese eingeprägt hatte.
«Unser Vater» – heilend und befreiend drangen diese Gebetsworte in ihr Herz. Bisher hatte sie Gott als fernen, unnahbaren und hart strafenden gekannt, wurden die religiösen Pflichten nicht eingehalten. Sie konnte es gar nicht genug beten. Ähnlich mag es den Menschen um Jesus ergangen sein. Staunend und in freudiger Ergriffenheit mögen sie immer wieder jubelnd ausgerufen haben: «Unser Vater im Himmel! » Gott im Gebet als Vater anzusprechen, war revolutionär. Im Gebets- und Liederbuch der jüdischen Gemeinde, den Psalmen, wird er nie so genannt, auch wenn in den übrigen Schriften des Alten Testamentes die Bezeichnung für Gott als Vater wenige Male vorkommt. Was muss das für eine Befreiung gewesen sein von bisherigen Angst einflössenden und bedrohlichen Gottesvorstellungen.
«Unser Vater!» Nicht mein, sondern unser! Das Gebet widersetzt sich dem Egoismus. Es nimmt den Betenden in die Gemeinschaft der Christen aller Weltregionen und unterschiedlicher Ausprägung hinein. Mehr noch! Es verbindet über das Grab hinaus auch mit den Betenden im Himmel. «Im Himmel»! Diese Ergänzung verhindert, dass Gott mit irdischen Vätern gleich gesetzt wird. Aber wie ist dieser himmlische Vater? Jesus sagt: «Wer mich kennt, kennt auch den Vater.» Gleichzeitig besagt «im Himmel»: Der so nahe Gott bleibt der unfassbare. Eben Gott!
Serie «Vaterunser»
Pfarrer Peter Schulthess ist ganz begeistert über das Vaterunser. Deshalb geht er in diesen Texten während der nächsten Monate so richtig ins Detail dieser «Gebetsvorlage». Er schaut das Gebet nach dem Matthäusevangelium genauer an, wirft aber manchmal auch einen Blick ins Lukasevangelium. Und falls Sie Fragen zu diesem Gebet haben, schreiben Sie uns.