«Unser Vater in den Himmeln»: Diese Formulierung erstaunt. Wohl der Tradition zuliebe heisst es auch in den neusten Bibelübersetzungen «im Himmel». Im griechischen Urtext steht die Mehrzahl «in den Himmeln». Ich werde an den Apostel Paulus erinnert. Er erzählt, dass er bis in den dritten Himmel entrückt worden sei. Erster Himmel, zweiter, dritter, vierter … wo endet das? Einen einzigen Himmel kann man sich irgendwie vorstellen. Aber mehrere? Wie unterscheiden sich diese? Wenn man stirbt, in welchen kommt man? Bleiben wir beim Vaterunser und fragen, was «in den Himmeln» im Zusammenhang mit der Anrede «Unser Vater» bedeutet. Während die Bezeichnung «Vater» Gott ganz nahebringt, erinnert «in den Himmeln» daran, dass er zugleich der Grosse, Unfassbare, Ewige, Geheimnisvolle und Heilige ist.
«Geheiligt werde Dein Name» nimmt darauf Bezug. Das ist kein Wunsch, keine Bitte, sondern so soll es sein. Das steht Gott zu! «Alles, was dich preisen kann, Cherubim und Seraphinen, stimmen dir ein Loblied an; alle Engel, die dir dienen, rufen dir stets ohne Ruh ‹Heilig, heilig, heilig!› zu.» In diesen Textzeilen aus dem Lied «Grosser Gott» kommt gut zum Ausdruck, was gemeint ist.
Auch der Mystiker Gerhard Tersteegen hat dargestellt, was den Namen Gottes heiligen heisst: «Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten. Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge.»
«Ehrfurcht. Schweigen. Sich beugen». Heute wird zur Anbetung aufgestanden. Warum? Es geht um hochachten, würdigen, wertschätzen. Was einem Menschen heilig ist, ist ihm ausserordentlich wichtig. Mit dem Stehen vor Gott wird das ausgedrückt.
Wir kennen diese Geste. Wenn die Braut die Kirche betritt, stehen alle auf. Ihr weisses Kleid unterstreicht es: Sie ist anders, verschieden, besonders, niemand ist ihr gleich. Keine andere Frau würde sich getrauen, ebenfalls ein weisses Kleid zu tragen. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie ist die Mitte, das Besondere, das Aussergewöhnliche. Um sie dreht sich alles.
Der griechische Begriff für heilig bedeutet genau das: anders, verschieden, getrennt von allen andern. Gott ist zwar wie ein Vater – und doch gleichzeitig völlig verschieden, anders. Im Gebet dreht sich alles um ihn, sind die Betenden auf ihn ausgerichtet, würdigen, achten und freuen sich an ihm, dem Heiligen, wie bei der Trauung die Geladenen an der Braut. Frühere Generationen standen nicht vor Gott, sondern knieten vor ihm. In katholischen Kirchen geschieht das heute noch. Als Vorbild galt ihnen der Prophet Daniel, von dem es heisst, dass er dreimal am Tag niederkniete, um Gott anzubeten. Warum nicht einmal beim Gebet vor Gott niederknien?
Serie «Vaterunser»
Pfarrer Peter Schulthess ist ganz begeistert über das Vaterunser. Deshalb geht er in diesen Texten während der nächsten Monate so richtig ins Detail dieser «Gebetsvorlage». Er schaut das Gebet nach dem Matthäusevangelium genauer an, wirft aber manchmal auch einen Blick ins Lukasevangelium. Und falls Sie Fragen zu diesem Gebet haben, schreiben Sie uns.