Velofahrerin steht auf einem Hügel und blickt zurück
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Freiheit – mit allen Risiken und Nebenwirkungen

Ein guter Umgang mit unseren Freiheiten
 
Publiziert: 19.06.2023

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Von Tamara Boppart

Obwohl wir heute hier in der Schweiz jede nur erdenkliche Freiheit geniessen, fühlen wir uns längst nicht immer frei. Was macht Freiheit aus? Ist sie mehr als diese diffuse Sehnsucht nach Weite und Terminfreiheit? Unsere Autorin macht sich der Freiheit auf die Spur – und zeigt auf, was Freiheit mit Verantwortung, der Marmeladenauswahl im Supermarkt oder dem christlichen Glauben zu tun hat.

Nehmen wir mal an, ich wäre eine Suchmaschine. Da ich eine Person bin, wäre das eine sehr subjektive Angelegenheit, das versteht sich von selbst. Würde man den Begriff «Freiheit» eingeben und auf Bildersuche klicken, würde ich zahlreiche Fotos von Menschen mit emporgestreckten Armen auf Felsvorsprüngen ausspucken. Würde man in mir nach «Freiheit» und «Lebensentwürfen» suchen, würde man das einfache Leben in einer Hütte im Bergtal kombiniert mit einem romantisierten Autorinnendasein finden. Feststeht, dass das Suchergebnis viel mit Selbstbestimmung, Luft und Weite zu tun hätte – und sehr wenig mit drängenden Aufgaben, Enge und Hamsterrädern. So viel zu meinem intuitiven Begriff von Freiheit.

Die Frage nach der Bedeutung und überhaupt dem Gesamtkonzept von Freiheit plagt die Menschheit schon lange. Seit der Antike bemühen sich die klugen Köpfe der Philosophie und auch der Religion um Durchblick. Viele fragten bereits danach, ob und wie wir – in welcher Form auch immer – frei sind oder es werden können.

Grenzen der individuellen Freiheit
Der erste Artikel der Menschenrechte der UNO besagt, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Gesellschaftspolitisch wird, so scheint mir, ordentlich am Begriff der Freiheit gearbeitet. Digitalisierung, Klimawandel, Pandemie: Freiheit ist längst keine Privatsache mehr. Die Freiheit, die Arme! Sie muss im Moment für alles Mögliche und Unmögliche herhalten. Sie wird von allen Seiten inhaltlich aufgeladen. Von rechts, von links, von oben, von unten. Beispiele gefällig? Die SP ist die «Partei der Freiheit». Die mit den Glocken und den klaren Vorstellungen nennen sich «Freiheitstrychler ». Die Grundidee des Liberalismus fordert indessen vom Staat, dass er uns ein Leben in Freiheit ermöglicht, sich sonst aber aus allem raushält. Dem US-amerikanischen Richter Oliver Wendell Holmes Jr. wird folgendes Zitat zur Frage der Grenzen individueller Freiheit zugeschrieben: «Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet, wo die Nase des anderen Mannes beginnt.» Ich gehe davon aus, dass heute auch Frauennasen betroffen wären. Meine Freiheit endet also da, wo ich anfange, anderen zu schaden. Nur, wo ist das? Mit sechzehn dachte ich noch, Freiheit sei, tun, was man will. (Unbeschwertheit – das Privileg der Jugend in den Neunzigern.) Mit dem Philosophen Hegel wird es komplexer: «Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.»

Als ich 1999 konfirmiert wurde, wählten wir das Schlagwort «Freiheit» als Motto unseres Gottesdienstes. Wir sprühten das Wort wie die Wilden als Graffiti auf ein altes Leintuch und hängten es in den Kirchenraum. Adoleszenter, übermütiger Ausdruck von neun jungen Menschen an der Schwelle zur Mündigkeit in Glaubensdingen. Ab nun hatten wir die Wahl, ob Sonntag in Zukunft Kirche oder Fussballturnier bedeuten soll.

Acht Milliarden Leben – nur eins davon ist meins
Die Philosophin Beate Rössler sagte in einem Interview, dass wir nur Romane lesen und uns Filme anschauen, weil wir freie Westler wissen wollen, wie unser Leben auch noch hätte verlaufen können in unserer autonomen Multioptionswelt. «Steile These», dachte ich und stellte mein eigenes Verhalten und Empfinden diesbezüglich schön säuberlich selbstreflektiert auf den Prüfstand. Ernüchternde Bilanz: Die Geschichten der anderen faszinieren mich nicht nur, aber auch gerade, weil sie nicht meine sind – aber theoretisch meine hätten sein können. In einem anderen Leben. So schaute ich vor einer Weile mit viel Genuss die Dokumentation über zwei Jungs, die mit dem Fahrrad von Deutschland bis nach China fuhren. Getrieben von ihrem unbändigen Freiheitsdrang und der Lust am Abenteuer. Ich hingegen sitze am Ende eines Tages auf dem Sofa. 50-Prozent-Job, Haus, Kinder, viel Ehrenamtliches – mein Leben und gleichzeitig die Gründe, warum ich im Moment nicht durch Usbekistan radle mit nichts als einem Zelt, zwei T-Shirts und einem Gaskocher. «Die Freiheit der Erwachsenen heisst Verantwortung», meinte der deutsche Theologe und Politiker Joachim Gauck. In diesem Punkt stimme ich ihm heute, müde auf dem Sofa sitzend, zu. Neunzig Minuten mit den beiden Velo-Jungs Richtung Osten zu ziehen, die Pannen, Krisen und Schönheiten auf dem Bildschirm mitzuerleben, war Ausbrechen genug. Frau Beate Rössler hatte wohl doch recht.

Risiken und Nebenwirkungen – Ich war ein freier Mensch, bis ich vor dem Joghurtregal stand
Beim Grillieren mit Freunden wird ausgetauscht unter Bald- und Bereitsvierzigjährigen. Eine Freundin beschreibt die aktuelle Dauerbelastung mit Kindern und Job und beklagt die Probleme junger Familien mit der Vereinbarkeit. Die zweite in der Runde hadert mit der Unentschlossenheit ihrer Tochter. Die macht Matura im Sommer und hat noch keinen Plan, was sie machen wird. In zwei Monaten ist aber Sommer. Das scheint für die eine Generation absolut kein Problem zu sein, die andere Generation macht es hingegen sehr nervös. Ich denke mir nach dem Abend im Garten: So viel Freiheit wie heute war wohl noch nie. Kinder oder Karriere? Oder beides oder keins davon. Fleisch oder vegan? Atheistin oder gläubig? Eigentlich haben wir doch alle Möglichkeiten. Eigentlich müssten wir doch ganz zufrieden sein – wieso sind wir es nicht? Warum fühlen wir uns trotzdem manchmal unfrei?

Mit der Frage nach der chronischen Unzufriedenheit in den freien, wohlhabenden Industrienationen bin ich nicht allein. Ganze Studien gibt es zum Thema. Verkürzt kann man wohl sagen, dass, obwohl Freiheit und Wohlstand in den letzten 35 Jahren ungebrochen gestiegen sind, die Lebenszufriedenheit eher nachlässt. Was, wenn wir also nicht unzufrieden sind, obwohl, sondern gerade weil wir so viele Möglichkeiten haben? Es ist wohl die Freiheit selbst, die uns ab und zu aufs Gemüt schlägt. Ein einfaches, aber aufschlussreiches Experiment der Psychologie gibt mir eine erste Ahnung davon. Im Versuch der Forscherin Sheena Iyengar von der Columbia University in New York stellte man in einem Delikatessenladen einen Probiertisch hin. Kundinnen und Kunden sollten verschiedene Marmeladensorten kosten. Variante 1 des Versuchs: Es standen sechs Sorten zur Auswahl. Variante 2: Auf dem Tisch wurden 24 Sorten präsentiert. Das grosse Angebot lockte zwar viele an den Tisch, diese waren aber eher verunsichert, zögerten und diskutierten viel. Die meisten zogen weiter, nur 3 Prozent kauften ein Glas Marmelade. Ganz anders das Verhalten der Leute mit der kleinen Auswahl. Von ihnen verliessen ganze 30 Prozent das Geschäft mit einem Marmeladenglas in ihrer Einkaufstüte. Optionserweiterung führte zu Verunsicherung und zu der Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Weniger Auswahl zu mehr Zufriedenheit. Das Ergebnis ist scheinbar paradox. Mit steigendem Angebot wird auch die Menge dessen, was wir systematisch verpassen, grösser. Und das mögen wir halt nicht.

Eine weitere Folge der Freiheit ist der weitaus belastendere Aspekt der Schuld. Je freier wir sind, desto grösser werden die Erwartungen an das eigene Ich. Und desto grösser natürlich auch das Risiko, diese Erwartungen in den Sand zu setzen. Egal ob in Beziehungen, in Sachen Arbeit oder im Leben überhaupt. Der Autor und Wissenschaftsjournalist Bas Kast sagte dazu: «Wer in einer Diktatur scheitert, ist vielleicht eine tragische Figur, unter Umständen auch ein Held. Wer in einem freien Land verliert, einem Land, in dem einem – tatsächlich oder vermeintlich – alle Türen offenstehen, der hat nicht einfach nur verloren. Er hat, so die selten ausgesprochene und dennoch unmissverständliche Botschaft an die Adresse des Verlierers, versagt.»

Eine alternative Sicht auf die Dinge
«Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei.» Diese poetischen Worte sind im Psalm 124 zu finden. Auch das Buch der Bücher, das seit Jahrtausenden die Weltgeschichte prägt, behandelt das Thema Freiheit. Nicht nur metaphorisch – aber auch. Das Buch Exodus beschreibt die Herausführung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Dieser Auszug in die Freiheit ist das Urdatum, die Gründungserzählung des jüdischen Volkes. Diese Geschichte spiegelt den politischen Kampf dieses Volkes, eingezwängt zwischen Grossmächten. Vor allem aber: Gott zeigt sich darin als ein Gott der Befreiung. Er definiert sich gewissermassen durch befreiendes Handeln. Viel später dann scheint Gottes befreiende Liebe in den Geschichten rund um Jesus durch. Sie wird spürbar in heilenden und lebensverändernden Begegnungen von leidenden Menschen mit dem Gottessohn. So wird beispielsweise von Maria Magdalena berichtet. Die von Krankheit und Seelenqualen gebrochene Frau wird durch Jesus heil und frei von den Geistern, die sie trieben. Dieses Aufatmen, die Last, die von ihr abfiel, ist kaum vorstellbar. Paulus betonte später einen anderen Aspekt mit dem Satz: «Zur Freiheit hat uns Christus befreit.» Für den Apostel haben todbringende Strukturen ihre Kraft verloren durch das Jesusereignis. Menschen, die dieser Sache Glauben schenken, seien frei, einander auf Augenhöhe zu begegnen, befreit zu Vergebung, Teilhabe und Liebe. Die gute Nachricht, von der uns das alte Buch erzählt und die die Kirchengeschichte bis ins 2023 getragen hat, ist eine entlastende, befreiende. Sie ist kein antiquierter Gegenstand. Es ist eine existenzielle Hoffnungsbotschaft im Heute für alle, die wirklich unfrei sind. Und ein Angebot, aufzuatmen, von der eigenen inneren Bürde entlastet zu werden. Freiheit und Zufriedenheit zu finden.

Ja, Freiheit ist auch, nicht unbedingt zu wissen, was man mit dieser Freiheit machen soll. Durch den Blick in die Welt, in mein Leben und den in die Bibel habe ich eine ungefähre Ahnung davon, wohin ich mit meiner Freiheit hinwill. Meine äussere Freiheit erlaubt mir, aufs Fahrrad zu sitzen und bis nach China zu radeln. Oder auch einfach nur für ein Wochenende völlig ohne Plan loszuziehen. Meine innere Freiheit ist der Zustand, in dem ich meine eigenen mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, meinen Glauben, meine Träume, meine Talente und die differenzierte Wahrnehmungsmöglichkeit nutzen kann. Mutige Entscheidungen treffen. Mich selbstbestimmt ausdrücken. Erfinderisch mitgestalten. Aber auch: mich begrenzen, wenn ich schade. Mitfühlend Verantwortung tragen. Befreit zur Freiheit.

 

Zur Person
Tamara Boppart schreibt und referiert freischaffend und im Auftrag von Central Arts – einer Bewegung von Kreativen in Popkultur und Kirchen – auf diversen Plattformen. Als Autorin und Projektleiterin lanciert und leitet sie zudem verschiedene Kunstprojekte und Initiativen, z. B. das Videoprojekt «Unto Us». Sie ist verheiratet, Mutter von vier Töchtern und lebt mit einer zweiten Familie gemeinschaftlich unter einem Dach im Zürcher Unterland.
© Online-Redaktion ERF Medien
 
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