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Wir übersehen, was wir haben – und sehen, was wir nicht haben

 
Publiziert: 16.09.2015

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Von Jürgen Werth

Danken kommt von Denken. Stimmt das wirklich oder ist das wieder eines dieser Wortspiele, die irgendwer irgendwann mal erfunden hat? Jürgen Werths Texte sind immer ganz nah am Leben. So auch in seinem neusten Buch «Danken tut gut». Und für ihn ist der Titel mehr als nur ein Wortspiel.

Danken kommt tatsächlich von Denken. Das germanische Wort «danc» bedeutet ursprünglich: Ich denke, ich gedenke. Wobei sich in das  edenken vielleicht auf geheimnisvolle Weise dankbare Gedanken mischen. Und eine dankbare Gesinnung entsteht. Heisst: Wer denkt, wird  dankbar?

Heisst umgekehrt: Wer undankbar ist, hat nicht gedacht? Nicht nachgedacht? Das jedenfalls behauptet der Aphorismensammler Peter E. Schumacher: «Nur wer denkt, kann danken.» Ganz so einfach ist die Formel sicherlich nicht. Aber sie weist in eine bedenkenswerte Richtung. Gedankenlosigkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen in einer Zeit, in der wir so häufig so wenig Zeit haben, all das aufzunehmen und zu bedenken, was auf uns einströmt. «So vieles verhuscht heute», sagte neulich ein guter Freund. Aus Gedankenlosigkeit wird nicht selten Dank losigkeit. Wir loten nicht mehr tief. Wir schätzen nicht mehr viel. Wir wägen nicht mehr sorgfältig. Es ist die Zeit der Gleichgültigkeit. Und – zumindest hierzulande – die Zeit des stillen und lauten Jammerns.

Dabei geht es uns heute richtig gut in Mitteleuropa. Besser  jedenfalls als allen Generationen vor uns. Besser auch als vielen Nachbarn. Besonders denen im fernen Süden und im Nahen Osten. Die aber sind häufig viel dankbarer als wir. Weil sie tiefer loten? Und ihre Lebens-Mittel bewusster wahrnehmen und schätzen? Wir sollten unser Leben neu bedenken. Die Lebens-Mittel, die wir nutzen dürfen. Und uns bedanken. Bei Menschen und bei Gott. Denn, so schreiben es die  Initiatoren des aktuell ausgerufenen Jahres der Dankbarkeit, «ein dankbares Leben ist ein gesundes Leben. Körperlich, seelisch und geistlich.»

Als unsere Kinder noch klein waren, hatten sie ein kleines Bilderbuch über «Zarifa, das unzufriedene Kamel». Dieses dumme Wüstentier hatte wirklich ständig was zu meckern. Immer fehlte etwas. Mal war es zu warm, mal war es zu heiss. Mal war das Futter zu feucht, mal war es zu trocken. Nie passte, nie reichte, was ihm zugedacht war. Beim Vorlesen spürte ich regelmässig, wie mir der Kamm schwoll. Zufriedenheit kann man lernen Manchmal habe ich Zarifa ärgerlich als Zeugin bemüht, wenn unsere Kinder wieder einmal etwas Neues zum Spielen oder zum Anziehen wollten, obwohl sie gerade erst etwas Neues bekommen hatten und die Schränke überquollen. Und habe mich dann an meine Kämpfchen mit Mutti im Kaufhof erinnert. Und mich ein bisschen geschämt.

Es steckt offenbar tief in unseren Genen: Wir übersehen, was wir haben. Und sehen, was wir nicht haben. Und was uns, so glauben wir, glücklich machen würde. Oder wenigstens zufrieden. Ein bisschen zufriedener als vorher. Dabei ist Zufriedenheit eine Lebenshaltung. Das habe ich in einem Seminar bei einem US-amerikanischen Unternehmens- und Lebensberater gelernt: «Contentedness is a learned behaviour.» Zufriedenheit ist ein gelerntes Verhalten. Will sagen: Wer zufrieden ist, hat gelernt zu sehen, was er hat. Wer unzufrieden ist, hat gelernt zu sehen, was er nicht hat. Aber kann man das tatsächlich lernen?

Zunächst: Zufriedenheit hat etwas mit Dankbarkeit zu tun. Wer dankbar ist, ist zufrieden. So kann man selbst  dann zufrieden sein, wenn man gar nicht viel hat. Ich möchte das auch sein. Ich möchte das lernen. Und üben. Jeden Tag. Darum habe ich mir angewöhnt – auf langen Autofahrten zum Beispiel – all das aufzuzählen, was ich bin und habe. Ich zähle es für mich selber auf. Aber ich sage damit auch Danke.

  • Für das Auto, das mich sicher an mein Ziel bringt.
  • Für die Strasse, die schlaglochfrei ist.
  • Für die korruptionsfreie Ordnung, auf die ich mich in diesem Land verlassen kann.
  • Für die abwechslungsreiche Landschaft, die ich geniessen kann.
  • Für Sonne und Wolken und Wind und Regen.
  • Für den Wechsel der Jahreszeiten.
  • Für die Musik aus dem iPod.
  • Für die unzensierten Nachrichten und Kommentare aus dem Radio.
  • Für die Klamotten, die ich trage, und dass ich heute wieder einmal die Qual der Wahl hatte.
  • Für das Frühstück, dass mir gut getan hat.
  • Für Mittag- und Abendessen, die auf mich warten.
  • Für das Haus, in dem ich wohnen darf.
  • Für die Menschen, mit denen ich mein Leben teile. Die mich lieben und zuweilen einfach aushalten.
  • Für die Liebe, die mich trägt.
  • Für die Aufgaben, die ich für andere erledigen darf.
  • Für die Lunge, mit der ich atme. Und dass ich sprechen kann. Hören. Sehen. Riechen. Fühlen. Und schreiben.
  • Für den Glauben. Und dass ich beten darf.
  • Für das Ziel dieser Fahrt. Und meines Lebens.

Manchmal bete ich. Und komme kaum an ein Ende. Weil jedes Dankeschön ein neues hervorlockt. Manchmal singe ich auch. Oft schätzen wir was wir haben erst dann, wenn wir’s hatten. Wenn’s weg ist. Unwiederbringlich verloren. Dann aber ist es zu spät.

Der kleine und grosse Komfort meines Lebens, alles, worauf mein Namensschild klebt, meine Talente, meine Berufungen, die Alltage und die Feiertage und Menschenmenschenmenschen – ich will nicht erst warten, bis ich sie schmerzlich vermisse. Ich will sie schon heute beachten und achten und wertschätzen. Und Danke sagen. Und zufrieden werden.

Wer dankbar lebt, denkt nicht nur weiter – er sieht auch weiter

Die Kreuzkirchengemeinde in Lüdenscheid hatte einen ungewöhnlich grossen Ausflug gemacht. Mit einem Sonderzug war sie zum Rhein gegangen. Am Ende des Tages hatte die Lok zehn Waggons voller fröhlicher Christenmenschen zurückgezogen auf die Lüdenscheider  Höhen.

Was folgte war ein grosser Abschied auf einem kleinen Bahnhof. Und zwei Gemeindepfarrer, die an die Spitze des Zuges stiefelten, die Trittleiter der Lokhochkletterten und sich beim Lokführer bedankten. So etwas war dem bis dahin auch nicht passiert. Die beiden Gemeindepfarrer waren Ingfried Woyke und Paul Deitenbeck, ein besondereres Lüdenscheider Original. Das Dankesagen war bei ihm nicht nur zur zweiten, sondern geradezu zur ersten Natur geworden.

Am Ende manches Restaurantbesuchs steckte er dem Ober ein  grosszügiges Trinkgeld zu und sagte: «Vielen Dank, Herr Ober. Sie haben uns freundlich bedient. Es hat gut geschmeckt. Bestellen Sie's auch in der Küche!»

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