Von Martin Benz
Bis zu jenem Sonntag im Sommer 2006 empfand Martin Benz, Pastor und Gemeindegründer, sein Leben als Erfolgsgeschichte oder christlich ausgedrückt: als gesegnet. Von einem Tag auf den andern stand er plötzlich vor den schmerzlichen Überresten einer gescheiterten Ehe, dem Zerbruch seiner Familie sowie dem Verlust seines scheinbar glücklichen Lebens. Inmitten von Ratlosigkeit, unzähligen Fragen, tiefem Schmerz und Zukunftsangst suchte er nach Antworten.
Bereits mit 18 Jahren hatte ich meine Jugendliebe geheiratet, und gemeinsam haben wir drei Kinder bekommen. Für mein Theologiestudium zogen wir an die Schweizer Grenze, und am Ende des Studiums gründeten wir unsere erste Gemeinde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten entwickelte sich diese Gemeinde prächtig, wuchs und war innovativ. «Kirche, die Spass macht» war unser Motto. Ich konnte ein Buch über das Wirken des Geistes schreiben und eine CD mit eigenen Lobpreisliedern veröffentlichen. Und einige Jahre später konnten wir sogar in unser gemeinsames Eigenheim einziehen. Für mich lief es rund und in unserem Umfeld galten wir als Familie Sonnenschein. Ich war glücklich verheiratet, und wir pflegten unsere Ehe ganz nach dem Leitgedanken: ein Ehe-Abend die Woche, ein Ehe-Tag im Monat und ein Ehe-Wochenende im Vierteljahr. Zudem versuchte ich trotz der Verantwortung als Gemeindepastor mindestens drei bis vier Abende in der Woche zu Hause zu sein, um Zeit für die Familie zu haben.
Erschüttert
Und dann kam dieser besagte Sonntag im Sommer 2006. Meine Frau und ich hatten gerade ein Ehewochenende hinter uns, und am darauffolgenden Wochenende sollte ich in einer befreundeten Gemeinde predigen. Am Abend zuvor schlief meine Frau – wie immer – in meinem Arm ein, und am Morgen verabschiedete sie mich mit der Ankündigung, dass sie bis zu meiner Rückkehr einen Kuchen backen würde.
Als ich gegen Mittag dann zurückkehrte und ins Haus kam, waren alle ausgeflogen; es stand auch kein Kuchen auf dem Tisch, sondern dort lag ein Brief. Darin offenbarte mir meine Frau, dass sie mich verlassen hätte und mit einem anderen Mann zusammengezogen sei. Die Kinder hatte sie mitgenommen in die neue gemeinsame Wohnung. Ich musste mich festhalten, so erschüttert war ich von diesen Zeilen. Ich hatte von all dem nichts geahnt, nicht das Geringste! Noch vor drei Stunden dachte ich, zu den glücklichsten Ehemännern zu gehören, und jetzt war meine Frau fort. Auch Freunde und Verwandte wussten nichts von dieser Entwicklung. Es war für alle ein totaler Schock.
Ich konnte es nicht fassen und versuchte mit meiner Frau Kontakt aufzunehmen, aber Gespräche waren nicht möglich. Ich wusste nicht, wo sie hingezogen war und erhielt nur die bittere Zusicherung, dass sie nie mehr zurückkommen wolle. Unsere Teenager, die auf diesen Schritt ebenso wenig vorbereitet waren, entschlossen sich, ihren Wohnsitz in Zukunft täglich zwischen Mama und Papa zu wechseln. So wichtig war es ihnen, weiterhin bei beiden Eltern zu Hause zu sein.
Verzweifelte Flucht zu Gott
Im darauffolgenden Jahr vergoss ich jeden Tag so gut wie alle Tränen, die ich hatte – weinte bis zur Erschöpfung. Um die Kinder nicht meiner Verzweiflung auszusetzen, hatte ich gleich damit begonnen, im Wald spazieren zu gehen.
Dort hörte niemand mein Jammern und Klagen. Ich wollte um diese Ehe kämpfen und nichts unversucht lassen, meine Frau zurückzugewinnen. Meine Gebete waren eine verzweifelte Mischung aus Anklagen und Betteln. Gott musste sich meine Vorwürfe anhören, all das zugelassen zu haben, und mein Betteln um die Wiederherstellung unserer Ehe. Zum Glück war meine Bedürftigkeit viel zu gross, als dass mir in den Sinn gekommen wäre, Gott links liegen zu lassen. Ich brauchte ihn gerade so dringend! Ich war ein zutiefst zerbrochener und wunder Mensch.
Fragen über Fragen haben sich in dieser Zeit aufgetan
- Werde ich jemals wieder glücklich? Meine Traurigkeit sass so tief, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals wieder ein glücklicher Mensch zu sein.
- Was geschieht mit meiner Berufung? Kann ich, will ich und darf ich noch Pastor sein, predigen und weiterhin an Gottes Reich mitbauen?
- Wer bin ich, nachdem mir meine weisse Weste verloren gegangen ist? Einen ganzen Teil meiner geistlichen Autorität hatte ich aus meiner bisherigen Erfolgsgeschichte und weissen Weste gezogen. So konnte ich ein Vorbild sein, hatte etwas zu sagen und mir Respekt verschafft. Und jetzt? Wer bin ich? Was habe ich noch zu sagen? Wer wird mir noch zuhören oder folgen?
- Wie gehe ich mit dem Gefühl der Ohnmacht um? Ich konnte einfach nichts tun, ich war vollkommen hilflos der Entscheidung meiner Frau gegenüber. Als notorischer Problemlöser und Macher war das eine neue und erschreckende Erfahrung.
- Was für einen Sinn hat es noch zu beten? Ich hatte die Angewohnheit, bei meinen regelmässigen Spaziergängen auch immer für unsere Ehe zu beten – um Gottes Segen und Bewahrung. Wenn solch ein intensives Beten am Ende nichts nützt, sondern genau das passiert, was man niemals erleben wollte, was macht es dann überhaupt noch für einen Sinn, für die Familie, die Gemeinde, Menschen oder Situationen zu beten?
- Und vor allem: Was hat das Ganze mit mir zu tun? Was habe ich falsch gemacht? Was hat meine Frau vertrieben? Was hat es ihr unmöglich gemacht, mit mir über all das zu sprechen, was ihr durch Kopf und Herz gegangen ist in den Wochen und Monaten vor ihrem fluchtartigen Verlassen unserer Ehe?
Wenn Lebenssäulen einstürzen
Für die meisten Pastoren, die solch einen Zerbruch ihrer Ehe erleben, stürzen damit gleich alle Lebenssäulen auf einmal ein. In vielen Kirchen verschwinden solche Pastoren in der Versenkung, verlieren neben ihrer Familie auch ihren Job und ihre Beziehungen in der Gemeinde.
Meine damalige Gemeinde hat sich entschieden, diesen Weg nicht so zu gehen. Ich durfte bleiben, ich durfte Pastor bleiben. Gleichzeitig hat man mir nahegelegt, meine Verantwortung am Scheitern der Ehe gründlich anzuschauen und dazu seelsorgerliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Diese Entscheidung war ein Glücksfall! In den kommenden Jahren hatte ich unzählige Sitzungen bei einem erfahrenen Psychiater und Psychotherapeuten, der mir geholfen hat herauszufinden, welche Charakterzüge, Lebenslügen und emotionale Unreife mitverantwortlich waren für die Entwicklung und das Scheitern unserer Ehe.
Und die Gemeinde hat hilfreiche Schritte definiert für meine Wiederherstellung, mir Menschen zur Seite gestellt, mich trotz allem mit Würde und Verantwortung beschenkt und so einen heilsamen Prozess mitgestaltet. Natürlich gab es hie und da Verurteilungen, aber erfreulicherweise befand ich mich in einem Umfeld, in dem mir viel Barmherzigkeit entgegenkam. Und ihre heilsame Wirkung kann man gar nicht genug schätzen!
Die Kirche als der barmherzigste Ort der Welt
Ich glaube heute, dass Kirche der barmherzigste Ort der Welt sein müsste, niemand sollte barmherziger sein, als wir, die wir Jesus kennen. Es kann doch nicht sein, dass wir als Christen, wenn wir einen grossen Zerbruch erleben, an dem wir vielleicht auch Schuld tragen, am Ende bei den Arbeitskollegen, bei Sportfreunden oder der Jogging-Gruppe mehr Annahme, Verständnis und Ermutigung erleben als in der eigenen Kirche! Als zerbrochener Mensch habe ich die Bibel plötzlich mit anderen Augen gelesen. Überall sprang mir bei Jesus das Thema Barmherzigkeit, Erbarmen, Mitleid und Solidarität entgegen. Und zwar gerade mit jenen, die es scheinbar nicht verdient hatten und denen die Frommen und Religiösen regelmässig ihre Ablehnung und Verachtung zu spüren gaben. Wir sollten auch die sein, die den Gestrauchelten helfen und ihnen nicht noch eins aufs Dach geben. Die Kirche müsste vielmehr dafür bekannt sein, dass sie der beste und sicherste Ort für Gescheiterte, Zerbrochene und echte Sünder ist.
Gott bleibt treu
Und ich durfte lernen, dass man seine Berufung nicht verlieren kann. Sie ist unverdient und nicht die Folge meiner Anständigkeit. Gott beruft mich nicht wegen Etwas an mir, sondern trotz Etwas an mir. In der Bibel lesen wir, dass Gott Israel als sein Volk erwählte. Das ist ein Bild und ein Beispiel für uns alle. Egal was dieses Volk mal wieder treibt, er bereut seine Berufung nicht. Er bleibt treu. Und darum kann ich aussteigen aus der elenden Imagepflege, um die Rechtmässigkeit meiner Berufung unter Beweis zu stellen. Sonst baut man Mauern um sich und verschwindet hinter einer Maske. Neben der Barmherzigkeit sollte auch die Ehrlichkeit unser Markenzeichen sein, denn was haben wir bei einem Gott zu verlieren, der uns schon maximal geliebt hat, als wir noch Sünder waren? (Rö. 5,8). Ich bin froh, dass Gott nicht den Querschnitt meines Lebens nimmt, sondern den Längsschnitt. Gott hat mein ganzes Leben im Blick und bleibt nicht am Moment des Scheiterns hängen. Diese Sicht auf das Leben möchte ich mir angewöhnen. Und noch etwas durfte ich erleben:
Frieden ohne Antworten
Auf viele meiner Fragen, die ich in meiner Verzweiflung empfunden habe, bekam ich keine Antworten. Und doch hat sich ein tiefer Friede in meinem Herzen eingestellt. Diese innere Gewissheit, dass mein Leben wirklich in Gottes Hand ist. Ich glaube, das ist es, was Paulus meint, wenn er schreibt, dass der Friede Gottes, der höher ist als unser Verstehen, unsere Herzen und Gedanken erfüllen soll (Phil. 4,7). Für die meisten Menschen ist Friede die Folge von befriedigenden Antworten, die man gefunden hat. Aber es gibt einen Frieden, der ist nicht auf die Befriedigung unseres Verstehens angewiesen und doch ganz real.
Wunderbare Wiederherstellung
Ein Mentor sagte mir in dieser Zeit des Zerbruchs: «Gott kann aus Trümmern Paläste bauen!» Diesen Satz würde ich am liebsten allen ins Herz schreiben. Das kann Gott wirklich! Der Gott, der aus dem Nichts die Schönheit der Schöpfung erschafft, kann auch aus meinen Trümmern lebenswerte Zukunft bauen. Ich dachte damals, ich würde nie mehr glücklich werden. Doch ich bin es wieder. Ich durfte mich mit meiner ersten Frau nach einigen Jahren tief aussprechen, gemeinsam weinen und gemeinsam um Verzeihung bitten, sodass wir heute versöhnt und Freunde sind.
Und ich durfte wieder heiraten! Nie hätte ich gedacht, nochmals so sehr mit einem anderen Menschen beschenkt zu werden. Und wir haben zwei gemeinsame Kinder, die eine dicke Portion meines Glücks ausmachen. Gerade zum Trotz dieser Corona-Zeit haben wir uns als Familie das Jahresmotto gegeben: L'Chaim – das Leben feiern! Es ist nämlich wert, gefeiert zu werden!