Von Rolf Germann
Bei delikaten Fragen hüllen wir uns in Schweigen. Wir kehren Dinge unter den Teppich, die schmerzhaft sind, verdrängen traumatische Erinnerungen, weil sie uns lähmen. Wir tabuisieren Peinliches und ängstigen uns davor, dass persönliche Unzulänglichkeiten offenbar werden. Rolf Germann, erfahrener Seelsorger, Coach und Supervisior, erlebt täglich, was passiert, wenn die Decke des Schweigens aufbricht und die Wahrheit ans Licht kommt.
«Reden ist Silber, Schweigen ist Gold», dieses Sprichwort tönt mir in den Ohren, als ich mich mit dem Thema des Artikels beschäftigte. Ein oft zitiertes Wort, gerade auch in christlichen Kreisen. Jesus tat seinen Mund nicht auf, er rechtfertigte sich nicht, sondern liess es mit sich geschehen, so argumentiert man gerne, um diese These als christliches Gut zu untermauern. In diesem Gedankenwirrwarr fällt mein Blick auf einen Buchtitel in meinem Büchergestell. «Das Schweigen brechen», ein Sammelband von Ruth Mauz, mit Beiträgen von Opfern, Zeugen und Experten zu ritueller Gewalt mitten in unserer zivilisierten Gesellschaft. Frauen erzählen, wie sie durch kriminelle Gruppierungen in düsteren Ritualen traumatisiert und schwer gezeichnet wurden. Unter Androhung von brutaler Gewalt werden sie zum Schweigen gebracht. Ich erinnere mich an eine andere Geschichte, weniger dramatisch und doch sehr prägend. Ein älterer, gut situierter und strammer Mann sitzt mir gegenüber. Seinem Auftreten nach scheint es so, als ob er sein Leben gut gemeistert hätte und zufrieden sein könnte mit sich und seinem Erreichten. Im Laufe des Gesprächs merke ich, dass vieles Maskerade ist. Emotionaler und körperlicher Missbrauch, Mobbing, Ablehnung und vieles mehr prägten seine Kindheit. Plötzlich wurden die heile Vergangenheit, die schöne Kindheit und die harmonische Familienidylle zu einer schmerzhaften Realität. Jahrelang trug er diese dunklen Erinnerungen mit sich herum und liess es zu, dass sie nicht nur seine Vergangenheit prägten, sondern auch die Gegenwart. Er wurde nicht durch seine Umgebung zum Schweigen verdonnert, er entschloss sich selbst dazu.
Diese Geschichten stehen stellvertretend für viele Menschen, die schweigend ihre Nöte, Schuld, die eigenen Geheimnisse oder die der Generationen durchs Leben tragen und sich aus ganz verschiedenen Gründen dazu entschlossen haben, stumm zu bleiben. Als nicht betroffener Zuhörer regt sich vielleicht Unverständnis über die Sprachlosigkeit der Betroffenen. Und doch ertappe ich mich auch dabei, wie ich in delikaten Situationen lieber schweige, als mich zu outen, Aber was bewegt Menschen zu schweigen?
1. Verharmlosung
«Das ist doch nicht so schlimm», «Kopf hoch, das wird schon werden», «Mach wegen dieser Kleinigkeit nicht so ein Theater», … Aussagen, die uns bestens vertraut sind. Es gibt immer Menschen, die noch Schlimmeres erlebt und grössere Schmerzen haben und die mehr Grund hätten, zu klagen. Aber wer setzt den Massstab, was schlimm, schmerzhaft, traumatisch ist?
2. Scham
Viele Menschen müssen sich überwinden, Beratung in Anspruch zu nehmen. Sie schämen sich, dass sie ihr Leben nicht allein auf die Reihe kriegen. In einer Familienaufstellungswoche in Deutschland war in vielen Aufstellungen der Nationalsozialismus ein Thema. Männer kamen aus der Gefangenschaft zurück und waren verändert. Ihre schweigende, in sich gekehrte, nicht einschätzbare Art prägte nicht nur sie, sondern die ganze Familie. Scham über das Geschehene bestimmt Generationen und prägt das künftige Lebensgefühl. Eine andere Familie, deren Vater von einem Tag auf den andern ins Ausland verschwand, wurde plötzlich mit Armut konfrontiert. Die Familie musste finanziell vom Sozialamt unterstützt werden. Das Geschehene und die Frage, wo der Vater ist, wurden in der Familie nie thematisiert. Schweigen, Rückzug, sich anpassen, mit der Situation klarkommen, sind unbewusste Strategien, um zu überleben.
3. Angst und Ablehnung
Ein weiterer Hinderungsgrund zu reden ist die Angst. Da tun sich Abgründe auf und suggerieren die unmöglichsten Vorstellungen, warum sich Reden nicht lohnt. Angst, nicht gehört oder verstanden zu werden, Angst vor Strafe und Ablehnung, Angst vor den Konsequenzen und vieles mehr stehen wie unüberbrückbare Mauern vor unserem Mund.
Was bewirkt Schweigen?
David beschreibt die Auswirkung seines Schweigens. In Psalm 32,3: «Denn als ich es verschweigen wollte, zerfielen meine Gebeine durch mein Seufzen.» Bei David geht es um die eigene Schuld, die er versuchte zu verdrängen. «Aber Gras darüber wachsen lassen» ist kein gesunder Lösungsweg. Ich bin ein grosser Filmliebhaber. «König der Löwen» ist ein Paradebeispiel, was Schweigen bewirkt: Simba ist der Sohn des Königs der Löwen. Eines Tages soll er den Thron seines Vaters Musafa besteigen. Doch Simbas böser Onkel Scar lässt Musafa töten und redet Simba ein, dass er für den Tod seines Vaters verantwortlich sei. Scham und Angst packen Simba, und er flieht, ohne die Situation zu ergründen oder zu klären in eine andere Welt. Seine neuen Freunde Timon, das Erdmännchen und Pumbaa, das Warzenschwein prägen seine neue Lebensphilosophie, die heisst: «Hakuna Matata» – es gibt keine Probleme, keine Schwierigkeiten, es ist alles in bester Ordnung. Aber trotz neuer Lebensausrichtung holt ihn seine Vergangenheit durch Nala, seine Jugendfreundin ein. Sie fordert ihn auf, seine Königsherrschaft einzunehmen und zurückzukommen. Doch Simba will nicht. Der Affe Rafiki konfrontiert ihn mit seiner Vergangenheit und lockt ihn zum Wasser. Im Spiegelbild nimmt er zuerst nur sein eigenes Bild wahr. Rafiki hakt nach und weist ihn darauf hin, dass das Bild seines Vaters in ihm lebt. Erst als Simba diese Wahrheit zulässt, beginnt der Dialog zwischen Vater und Sohn, der das Leben von Simba erneuert. Er hört die Worte seines Vaters in seinem Geiste: «Erinnere dich, wer du bist! Wenn du vergessen hast, wer du bist, dann werde auch ich vergessen gehen.» Das bringt seine ganze Verzweiflung wieder hoch. «Wie soll ich das machen, ich bin nicht mehr derselbe», ist sein Hilfeschrei. Nichts ist geheilt, nur verdrängt. Als Antwort bleibt nur das eindringliche Wort: «Erinnere dich, vergiss niemals, wer du bist!» Was für ein starkes Bild. Gerne beschreibe ich im Einzelnen diesen Lösungsansatz.
Realitätscheck
Für den Realitätscheck ist es hilfreich, einen nicht involvierten Menschen miteinzubeziehen. Die differenzierte Sicht von aussen ist wichtig. Oft sind Betroffene so mit sich und ihrer Schuld oder Situation beschäftigt, dass sie kein Licht mehr sehen und ihre eigenen Ressourcen und ihre wirkliche Identität nicht mehr wahrnehmen. Der ermutigende Zuspruch eines begleitenden Menschen kann in so einer Situation Wunder bewirken und Hoffnung und Zuversicht wecken.
Erinnere Dich!
Es war dieses Wort, das Simba zur Umkehr anleitete. Er hat seine wahre Identität, seine Königssohnschaft, mit der eines in den Tag hineinlebenden Menschen vertauscht. Er hat seine Herkunft, und damit auch seinen Stand und seine für ihn vorgesehene Aufgabe, preisgegeben. Die ganze Bibel ist voll von solchen Geschichten, schauen wir auf Abraham, Moses, Josef aber auch auf Petrus und viele mehr. Gott hat sie allesamt wieder zurückgerufen und eingesetzt. Erinnere dich, wer du bist und was Gott in dir angelegt hat. Wer sich der Vergangenheit stellt, muss sich zwangsläufig auch mit seiner von Gott gegebenen Identität beschäftigen. Diese war schon vor Grundlegung der Welt da und kann nicht ausradiert werden. Was Gott bestimmt hat, bleibt ewig!
Konfrontiere die Lüge mit der Wahrheit
Die Lüge sagt, du bist nicht mehr derselbe und darum nicht mehr zu gebrauchen. Du bist zwar nicht mehr derselbe, aber die Vergangenheit hat dich nicht zerstört, sondern weitergebracht. «Du kannst davonlaufen oder daraus lernen«, sagt Rafiki zu Simba. Schweigen bedeutet davonlaufen. Die Vergangenheit, die Wahrheit, die erlebten Situationen tun weh, auch das ist richtig, aber sie verhelfen zu neuem erfüllten Leben. Damit meine ich nicht Luxus, Harmonie und sorgenfreies Leben, sondern Friede und versöhnt sein mit der Vergangenheit und den Mut, mit Jesus die Zukunft anzupacken. Jesus hat den Erfinder und Initiator aller Lügen überwunden. Durch sein Leiden und Sterben hat er stellvertretend alles Leid und alle Last für alle Zerbrochenen getragen, um «als Weg, die Wahrheit und das Leben» (Johannes 14, Vers 6) die Verzweifelten zu retten und zu befreien.
Sich auf den Weg machen
Die Wahrheit zu erkennen ist sehr entscheidend und ein wichtiger Schritt, aber nur ein erster. Simba machte sich auf den Weg zurück durch das Dickicht, durch das er floh, hinein in sein Land, in das er gehörte. Auf dem Weg traf er Nala, seine Freundin, gemeinsam packten sie die Eroberung des geraubten Landes an. Wer sich auf den Weg macht, bleibt nicht allein. Moses wurde Aaron zur Seite gestellt, die Jünger waren zu zweit unterwegs. Vielleicht ist eine Zweierschaft eine gute Therapie, sich nicht in Schweigen zu hüllen. Zurück ins Leben zu kommen und in das, wofür wir geboren wurden, hat oft mit Kampf zu tun. Unseren Stand im Leben erobern, dafür kämpfen, ihn zu erhalten, Rückschläge erfahren, wieder aufstehen und Krone richten gehören zum alltäglichen Leben. Dadurch wird die eigene Identität, wie auch die Verbindung zu Gott und zu seinem Reden durch den Heiligen Geist gestärkt. Wir lernen, mit den Zusagen Gottes zu leben und in unseren Begrenzungen die übernatürlichen Kräfte, die Wege und das Leiten des Heiligen Geistes zu entdecken.
Letzthin habe ich einen interessanten Satz gelesen: «Was man bereden kann, kann man bewältigen.» Schweigen ist keine Lösung – Schweigen ist nicht Gold! Fertig mit dem Schweigen – wir sind keine Gefangenen unserer Vergangenheit, sondern Architekten unserer Zukunft.
Zur Person
Rolf Germann, ehemals Pastor, arbeitet selbstständig als Supervisor und Coach. Er ist teilzeitlich beschäftigt in der Stiftung Schleife (schleife.ch) in Winterthur als Verantwortlicher für die Aus- und Weiterbildung in der Seelsorge und leitet zusammen mit seiner Frau Annemarie Germann die Arbeit mit Ehepaaren.