Von Ruedi Josuran
Politiker, Pastoren, Wirtschaftsführer brauchen gerne die Redewendung: «Wir dürfen unsere Augen nicht länger vor der Realität verschliessen.» Doch was ist eigentlich mit unseren Ohren? Die haben doch auch ganz viel mit Realität zu tun. Wir sind immer mehr einem Dauerbombardement an Infos, Werbebotschaften, Erwartungen, Lügen und Halbwahrheiten ausgesetzt. Wie gehen wir damit um?
Immer mehr Leute – vor allem im Pendlerverkehr gut zu beobachten – verschliessen ihre Ohren vor Aussenwirkungen und unerwünschten Kontaktaufnahmen. Kaum jemand möchte auf die mobile Musikbegleitung per Kopfhörer oder Ohrstöpsel verzichten. Die Dauerbeschallung auf Schritt und Tritt scheint damit auch Ausdrucksweise einer gewissen Protest-Bewegung zu sein. «Ich möchte nichts mehr hören und auch nicht angesprochen werden.» Mit Musik kann man sich optimal von der Aussenwelt abschirmen. Die «Abschirm- Geräte» werden immer auffälliger.
Weghören als Schutzverhalten
Das «Weghören» gehört auch zu einem neuen Kommunikationsverhalten. Wenn im Arbeitsalltag nicht mehr zugehört wird, arbeiten Abteilungen aneinander vorbei und Kollegen machen dicht. Der volkswirtschaftliche Schaden einer unachtsamen Kommunikation im Arbeitsalltag ist gross: Managementfehler, die im Zusammenhang mit mangelndem Zuhören stehen, verursachen immense Schäden.
Gleichzeitig sind wir «overnewsed and underinformed ». Wir wissen immer mehr, können aber immer weniger einordnen. Eine neue Art von Stress. Bei einem Flugzeugabsturz hätten wir früher erfahren, dass es abgestürzt ist und untersucht wird, ob menschliches oder technisches Versagen vorliegt. Heute erfahren wir jedes noch so kleine Detail über diesen Flug. Von den Geräuschen der Maschine, den psychischen Störungen des Piloten, den Leidensgeschichten der Angehörigen. Nach zehn solchen Negativ- Meldungen kommen wir in den Zustand der diffusen Angst. Allerdings ohne dies wirklich zu realisieren.
Der deutsche Buchautor und Arzt Michael Winterhoff schreibt in seinem Buch «Mythos Überforderung», dass unser Gehirn nur eine bestimmte Menge an Entscheidungen treffen kann. Durch die Entwicklung des Internets und des Smartphones überladen wir uns mit Meldungen und Entscheidungen, die wir treffen müssen. Professor Ernst Pöppel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat erforscht, dass wir täglich rund 20 000 Entscheidungen treffen müssen. 90 Prozent unbewusst. Bleiben noch immer 200 übrig, über die man sich Gedanken machen muss. Das ist definitiv zu viel. Googeln wir nach Restaurant-Vorschlägen, kommen 20 Möglichkeiten. Buchen wir eine Reise, vergleichen wir 100 verschiedene Angebote im Internet. Ebenso wenn wir einen Handy-Tarif ändern wollen. Ein Blick auf Facebook oder Twitter bedeutet, unzählige Nachrichten und Informationen aufzunehmen und abzuwägen.
Dieser Entwicklung auszuweichen wird zusehends schwieriger. Wir leben nun mal in einer Informationsgesellschaft. Wir überladen aber ständig unser Gehirn. Und ebenso schlimm ist, dass wir es nicht einmal merken. Denn unsere Psyche hat mehrere Schwachpunkte. Einer davon ist, dass die Psyche nicht wehtut. Wir können sie extrem belasten und überanstrengen, ohne es zu merken. Immer mehr Erwachsene laufen mit ihrer Psyche Marathon. Würden wir das Gleiche mit unserem Körper machen, würden Schmerzen das längst verhindern.
Input reduzieren
Können wir denn unsere Ohren und damit unser Gehirn schonen? Winterhoff meint: « Wir müssen den Input reduzieren, damit wir weniger Entscheidungen treffen müssen. Ursprünglich wurde der Sonntag eingeführt, weil wir nicht sieben Tage ohne Unterbruch auf dem Acker stehen können. Heute sollten wir für unsere Psyche einen freien Tag einführen, ohne TV, Smartphone, Internet. Also alle sieben Tage Abstinenz von der Informationsflut. Nur dann kann das Gehirn regenerieren.»
Nicht immer schonen kann man sich im Alltag gegen:
→ persönliche Beleidigungen
→ respektlose Aussagen und Andeutungen, die den persönlichen Glauben ins Lächerliche ziehen
→ Angriffe im Schutze der Anonymität im Internet
→ Gerüchte, die in Umlauf gesetzt werden
Wir können nicht allem, was uns verletzen könnte, aus dem Weg gehen. Wir können aber überlegen, wie wir damit umgehen. Wieviel Macht wir solchen Ideen, Worten und Aussagen geben. Überlegen Sie doch einmal, wem in Ihrem Leben Sie alles Macht über sich geben und fragen Sie sich, ob Sie das eigentlich wirklich wollen. Wenn nicht, dann geben Sie anderen Menschen weniger Macht über sich und Ihre Gefühle: Kein Mensch kann dafür sorgen, dass Sie sich schlecht fühlen, wenn Sie es ihm nicht erlauben.
Machen Sie sich klar, dass die Möglichkeit verletzt zu werden, zum Leben dazugehört. Schreiben Sie auf,
→ worüber Sie sich ärgern
→ wer Sie ärgert
→ was Sie ärgert oder verletzt
→ wodurch Sie sich schlecht fühlen
→ worunter Sie leiden
Und dann überlegen Sie einmal, was Sie ganz konkret tun können, um etwas zu ändern.
Vielleicht können Sie bestimmte Situationen vermeiden, oder ein klärendes Gespräch führen. Vielleicht können Sie auch etwas an Ihrer Einstellung verändern, so dass Sie sich nicht jedes Mal wieder über dieselben Dinge ärgern müssen. Teilen Sie auch diese Bereiche mit Gott oder suchen Sie Unterstützung, wenn Sie es allein nicht schaffen.
Denken Sie einmal darüber nach, in welchen Bereichen Ihres Lebens Sie sich dafür entscheiden, nichts zu tun und damit Macht über Ihr Leben abgeben. Sind Sie mit diesen Situationen zufrieden? Wie wirkt sich das auf Ihre Lebensqualität aus?
Jeder von uns trifft täglich, stündlich, ja minütlich Entscheidungen. Entscheidungen für oder gegen etwas. Auch nichts zu tun ist eine Entscheidung.
Die Begegnung mit Walter Kohl, dem Sohn des ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, hat mich einiges über Umgang mit Angriffen und Vergebung gelehrt. In der Vergebung befreie ich mich selbst von der negativen Energie, die durch die Verletzung noch in mir ist. Wenn ich dem andern nicht vergebe, dann bin ich noch an ihn gebunden, dann hat er noch Macht über mich. Vergebung ist die Befreiung von der Macht des andern. Ich gebe die Verletzung weg, ich überlasse sie ihm. Ich befreie mich davon. Ich löse die Fesseln, die mich immer um die Verletzung kreisen lassen. Vergebung gehört zur Seelenhygiene. Und die ist immer möglich, auch wenn sie oft erst nach einem langen und schmerzlichen Prozess gelingt. Ich darf zugeben, dass ich verletzt worden bin. Durch Worte, Symbole, Handlungen. Das ist aber nicht das Ende.
Die Vergebung tut mir selbst gut. Wenn ich dem, der mich verletzt hat, nicht vergeben kann, dann bin ich noch an ihn gebunden. Dann bestimmt der andere noch meine Stimmung. In der Vergebung befreie ich mich von der Macht des anderen. Ich bin wieder bei mir selbst. Es tut vielleicht immer noch weh. Ich lasse den Schmerz zu.
Pater Anselm Grün meint: «Ich muss auch nicht immer gleich vergeben. Der erste Schritt ist, dass du dich erst mal schützt. Du musst dir sagen: Ja, das hat weh getan. Aber ich erweise der Person, die mich verletzt hat, nicht die Ehre, dass ich den ganzen Tag über sie nachdenke. Ich erteile innerlich Hausverbot. Wenn ich solchen Menschen begegne, muss ich mich erst einmal schützen. Dafür brauche ich die Aggression. Sie zeigt dir: Da ist die andere Person und hier bin ich. Sie darf so sein, wie sie ist. Aber ich gebe ihr keine Macht. Erst wenn du das einige Zeit übst, kannst du das Verhalten bei ihr lassen. Das ist schon der erste Schritt der Vergebung.»
Ich muss also nicht warten, bis die andere Seite einsichtig ist. Das wird vielleicht nie der Fall sein. Walter Kohl spricht vom «einseitigen Friedensvertrag». Ich muss mich erst einmal von seinem Einfluss befreien. Ich muss sein Verhalten bei ihm lassen. Dann hat er keine Macht mehr über mich. Ob er sein Verhalten einsieht oder nicht, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass ich mich innerlich von seinem Verhalten befreit habe.
In Fällen, wo die Verletzungen tiefer sitzen, schlägt er ein Ritual vor. Nochmals aufschreiben, was weh getan hat. Dann vergraben und dort lassen. Ohne in einer Opferrolle zu bleiben, dürfen wir uns auch unsere Verletzlichkeit eingestehen und zulassen vor Gott. Das ist für viele der schwerste Schritt, denn hierbei öffnen wir uns unserer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Können wir jedoch mit diesen Gefühlen sein, ohne sie abzulehnen, kann etwas Neues entstehen. Ich verliere auch meine Empathie und Sensibilität nicht.
Handelndes Hören
Indem wir uns im Sinne Jesu ganz in diese Welt hinein geben, gehen wir Risiken ein. Wir bekommen aber auch ein gesundes Gespür für die Gnade. Paulus hat auch gerade an seinen Grenzen (2. Kor 12,7) erfahren, dass Gottes Kraft desto stärker in uns wirkt, je schwächer die eigene Kraft ist (2. Kor 12,9). Unser Wunsch wäre es, unverletzbar zu sein, immer «richtig» auf Angriffe zu reagieren, emotional ausbalanciert zu sein, ein gutes Image zu haben. Doch das Paradox ist, dass wir ausgerechnet dort, wo wir schwach sind, wo wir uns nicht in der Hand haben, für Gott am offensten sind. Gerade in der Schwäche sind wir frei von der Versuchung, Gott aus eigener Kraft erreichen zu wollen. Meist sind wir da auch am glaubwürdigsten in der Kommunikation. Wenn wir zu allen unseren Seiten stehen können.
Auch im Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13,24-30) wird uns eindrücklich vor Augen geführt, dass Vollkommenheits-Fanatiker, welche gerne die Ideale erfüllen möchten, mehr Schaden als Nutzen anrichten. Wer fehlerlos sein will, reisst auch seine Lebendigkeit aus, der zerstört mit seiner Schwäche auch seine Stärke. Wer vor allem korrekt sein möchte, auf dessen Acker wird nur noch ein kümmerlicher Weizen wachsen. Viele sind so sehr auf das Unkraut fixiert und kreisen ständig darum ihre Fehler auszuradieren, dass das Leben darunter leidet. Vor lauter Korrektheit sind sie ohne Kraft und Leidenschaft.
Letztlich geht es nicht nur um den Eigenschutz, um den Umgang mit dem Gehörten, sondern um eine neue Kultur des «Hin-Hörens ». Zuwendung und Hinwendung, wie sie von Jesus Christus vorgelebt wurde.
Ein echtes Wahrnehmen des Gegenübers. Diese Fähigkeit wollen wir nicht verlieren, nur weil wir uns selber schützen wollen. In einer Gesellschaft, in der man sich zuhört, geht es allen besser. Nur wer zuhört, kann mitreden. Nur wo man sich zuhört, gibt es gemeinsame Ziele. Richtiges Zuhören heisst auch: «Mit dem Herzen hören.»
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