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Frau ist traurig und stützt ihren Kopf mit den Händen
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Wo um alles in der Welt steckst du, Gott?

Die Sache mit der Gerechtigkeit
 
Publiziert: 19.08.2024 20.08.2024

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Von Nicu Bachmann

Wer die Nachrichten liest, kriegt eine geballte Ladung Ungerechtigkeit geliefert. Doch nicht nur die Welt ist damit überflutet, auch wir selbst werden von Schicksalsschlägen erschüttert. Wir leiden. Und wir fragen uns: Warum ausgerechnet ich? Und überhaupt – wo ist Gott in all dem Leid? Ist er blind? Braucht er eine Brille? Sieht er nicht, wie schlecht es hier unten läuft? Das ist einfach alles so ungerecht!

Gerechtigkeit wird in unserer Gesellschaft grossgeschrieben. Und sie steckt tief in unseren Knochen. Schon als kleiner Knirps forderte ich sie lauthals ein: «Mami, er hät eis meh becho als ich, das isch ungrächt!» Wie schnell fühlte ich mich ungerecht behandelt. Und ich glaube, jede und jeder von uns kann darüber ein (Motz)lied singen.

Gerechtigkeit ist definitiv ein Urbedürfnis von uns Menschen. Wenn uns jemand Unrecht antut, löst das Konflikte aus. Schliesslich muss Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Auch das üben wir schon als Kids ein. Wenn ich einen Box in den Magen kriege, gibt es als Vergeltung eine Faust zurück. Mindestens. Dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt.

Im Film fiebern wir mit denen mit, die ungerecht behandelt werden, und freuen uns, wenn die Gerechtigkeit am Schluss siegt. Der grosse Böse liegt besiegt am Boden mit dem Fuss des Unterdrückten auf dem Bauch.

Die Ungerechtigkeit stinkt zum Himmel
Und dann gibt es noch folgendes Sprichwort: «Die Ungerechtigkeit stinkt zum Himmel.» Da kommt eine neue Dimension ins Spiel. Der Himmel. Gott. Die höchste Instanz. Von ihm erwarten viele Menschen, dass er gerecht ist. Schliesslich spricht man ja vom lieben Gott. Ein lieber Gott muss zwangsläufig auch gerecht sein. Und wir schauen die Welt an und sehen, dass es so oft an Gerechtigkeit fehlt. Irgendwie geht die Rechnung nicht auf. Weder im Weltgeschehen noch in unserem persönlichen Leben. Warum lässt ein liebender Gott zu, dass so viele Unschuldige im Krieg leiden müssen? Warum lässt ein guter Gott zu, dass ich mein Kind verloren habe?

Viele Menschen in der Schweiz haben keine befriedigende Antwort auf diese Frage gefunden und deshalb bewusst mit dem Thema Gott abgeschlossen. Das Leid kann man ja nicht anzweifeln, das sehen und erleben wir tagtäglich. Also wird Gott aus der Rechnung gestrichen. Es kann ihn nicht geben, sonst würde in dieser Welt Gerechtigkeit herrschen. Damit leben viele und machen sich keine unnötigen Gedanken mehr. Dabei wird es erst jetzt richtig spannend: Nehmen wir mal an, es stimmt, es gibt tatsächlich keinen Gott. Das Leid und die Ungerechtigkeit sind aber immer noch da. Hmm. Wer ist dann jetzt verantwortlich für all die Grausamkeit, die auf dieser Welt zu finden ist? Sind es am Ende vielleicht doch wir Menschen? Sind wir doch nicht so gut wie oft behauptet? Oder gibt es sogar den Teufel als Gegenspieler Gottes? Ist er der Ursprung des Bösen und Leids?

Ich hatte das Vorrecht, mich von Berufes wegen intensiver mit diesen wichtigen Fragen und Gedanken zu beschäftigen. Als gelernter Theologe im icf Zürich darf ich unterdessen seit über 15 Jahren mit einem grossartigen Team Musicals schreiben und produzieren. Dieses Jahr erarbeiteten wir ein Stück, das auf der biblischen Geschichte von Hiob basiert. Ein Mann, der gottesfürchtig ist und ein glückliches Leben führt. Was er anpackt, gelingt ihm. Erfolgreich im Beruf, tolle Familie, ein Haus, Geld, alles im Überfluss. Doch dann wird es zappenduster.

Gott straft sofort
Hiob erlebt Schicksalsschlag auf Schicksalsschlag. Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Er verliert sein Geschäft. Er verliert sein ungeborenes Kind. Er verliert die Nähe zu seiner Frau. Er verliert seine Gesundheit. Und dann fragt er sich: «Wo bist du Gott in diesem Schlamassel? Warum lässt du das zu? Warum ich?»

Seine Freunde beratschlagen ihn in der schier ausweglosen Situation. Die Frommen stellen Hiob in Frage und sagen, dass er es wohl mit Gott verbockt habe und dass Gott ihn jetzt strafe. Andere wie seine Frau stellen die Güte Gottes in Frage und fordern Hiob auf, seine Beziehung zu Gott an den Nagelzu hängen, da er ein grausamer Gott sei, der mit erhobenem Zeigefinger nur darauf warte, dass Menschen Fehler machten und er sie dann ganzgemäss dem Karma-Gedanken zur Rechenschaft ziehen könne. Wieder andere kommen zur weiter oben angedeuteten Schlussfolgerung, es kann gar keinen Gott geben und Hiob solle seine Augen aufmachen und das endlich akzeptieren.

Diese letzte Konsequenz ist Hiob nicht bereit zu ziehen. Er sieht zu viele Hinweise auf Gott in dieser Welt, zum Beispiel in der Schönheit der Natur. Wie kann das Wunder Mensch ein Produkt des Zufalls sein? Hiob bringt zu wenig Glaube auf. Sein Glaube reicht nur für einen Schöpfergott, nicht für einen zufälligen Urknall.

So bleibt ihm nichts anderes übrig, als irgendwie an Gott dranzubleiben. Und weil er ihn nicht versteht, hadert er mit ihm. Er findet, dass Gott ihn ungerecht behandle: «Wie lange willst du mich noch so beobachten? Kannst du mich nicht in Ruhe lassen – nur einen Augenblick? Habe ich gesündigt? Was habe ich dir getan, du Wächter der Menschheit? Warum machst du mich zur Zielscheibe deiner Angriffe? Bin ich dir eine Last?» (Hiob 7,19-20)

Lieber ehrliche Fragen als lieblose Antworten
Hiob beharrt darauf, im Recht zu sein. Und was macht Gott? Der kann damit umgehen. Ihm sind die ehrlichen Fragen Hiobs lieber als die frommen Antworten seiner Freunde.

Bei Gott und für Gott sind Fragen jederzeit willkommen. Das ist extrem wohltuend – gerade heute in einer Gesellschaft, die auf alles immer sofort eine Antwort haben muss. Manchmal lassen seine Antworten etwas auf sich warten, wie bei Hiob. Die haben es dann dafür in sich. Gott antwortet Hiob: «Wo warst du, als ich die Grundfesten der Erde legte? Sag es mir, sofern du Bescheid weisst! Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es hervorbrach und aus dem Schoss der Erde quoll? Ich sagte: ‹Bis hierher darfst du kommen und nicht weiter. Hier sollen sich deine stolzen Wellen brechen!›

Hast du jemals in deinem Lebenden Morgen herbeigerufen oder der Morgenröte befohlen, sich im Ostenzu zeigen, damit ihr Glanz die Enden der Erde erfasst? Hast du den Überblick über die ganze Weite der Erde? Sag es mir, wenn du dich mit all diesen Dingen auskennst! Hast dudem Pferd seine Stärke gegeben oder seinen Hals mit der wehenden Mähne geschmückt? Steigt der Adler auf deinen Befehl hin in die Höhe und baut dort sein Nest? Der Mann, der Gott zurechtweist, soll nun antworten!» (aus Hiob 38/39/40)

Hiob widerruft seine Anklage: «‹Wer ist es, der Gottes weisen Plan ohne Verstand verdunkelt?› Ja, ich habe in Unkenntnis über Dinge geurteilt, die zu wunderbar für mich sind, ohne mir darüber im Klaren zu sein.» (Hiob 42,3)

Gott hat selbst Leid erfahren
Und dann passiert es. Gott erklärt, dass Hiob alles richtig gemacht hat. Er kam mit seiner ganzen Not, mit all seinen Fragen, seinen Zweifeln und seinem Ärger zu Gott. Und Gott segnet ihn und schenkt ihm ein neues Leben im Überfluss und eine grossartige Familie.

Selbst ihm tiefsten menschlichen Leid hat sich Hiob nicht von Gott abgewandt. Und: Gott bleibt bei Hiob. Ganz nah. So unverständlich sein Handeln für Hiob auch ist. Diese Nähe erfährt in der grossen Geschichte Gottes mit den Menschen an Weihnachten eine neue Dimension. Dort feiern wir nämlich seit 2000 Jahren nicht etwa den Tag des Tannenbaums oder von Fondue Chinoise, sondern dass Gott uns so nahe kam, dass er uns seinen Sohn Jesus schickte. Er begegnete den Menschen in ihrem Leid, bevor er selber unfassbares Leid erfuhr. Am Karfreitag wurde Jesus als Unschuldiger hingerichtet. Er hat Einsamkeit, Schmerz, Angst und Tod erlitten. Er weiss, wie sich Leid anfühlt. Er war und ist mittendrin in unserem Schmerz. Er fühlt mit. Doch das Leid, der Schmerz und der Tod haben nicht das letzte Wort. Weder im Leben von Jesus, von Hiob noch in dem von uns heute! Genau deshalb feiern wir Ostern: Gott hat Jesus nach drei Tagen von den Toten auferweckt. Und auch wenn wir in dieser Welt noch Leid erfahren, haben der Tod und das Leid den Schrecken verloren für alle, die an ihn glauben. Gott verspricht uns ewiges Leben mit ihm. Ein Leben, wo es kein Leid mehr geben wird und alle unsere Tränen abgetrocknet werden.

Gott hat uns Menschen nie versprochen, uns alle Antworten auf unsere Fragen in diesem Leben zu liefern. Dafür hat Jesus nach seiner Auferstehung seinen Anhängern etwas anderes versprochen: «Seid gewiss: Ich bin jeden Tag bei euch, bis zum Ende der Welt.» (Matthäus 28,20)

Und weil er da ist, kann ich jederzeit mit ihm sprechen. In einem Gebet. Vielleicht ist es am Anfang zögerlich. Vielleicht ist es gespickt mit Zweifeln. Vielleicht schwingt sogar Wut mit. Gott kann damit umgehen.

Am Schluss kommt es gut
Die Frage sowohl nach dem Grund wie auch nach dem Ursprung vom Leid bleibt für Hiob grösstenteils ungeklärt. Somit auch für uns. In all unseren Fragen sucht Gott immer wieder unser Vertrauen. Es ist wie in einer tiefgehenden Beziehung. Sie lebt von einem unerschütterlichen Vertrauen. Auch da ist manchmal Unverständnis, auch da fühlt man sich manchmal ungerecht behandelt. Und trotzdem, wenn die Beziehung von Nähe geprägt ist, hält sie diese Fragen aus.

Dietrich Bonhoeffer, der im Zweiten Weltkrieg aktiven Widerstand gegen das Naziregime leistete und dafür mit seinem Leben bezahlte, brachte den Mut auf, Gott in allen Fragen zu vertrauen: «Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen.» (Widerstand und Ergebung, DBW Bd. 8, S. 30) In grösster Not löste Bonhoeffers tiefes Gottvertrauen ungeahnte göttliche Widerstandskraft im Leid aus.

So ein Vertrauen wünsche ich mir
Ein Vertrauen, das akzeptiert, dass Gott Gott ist und er den Weitblick hat. Ich nicht. Ein Wissen, dass er gerecht ist und dass die Gerechtigkeit am Schluss siegt. Und zwar seine Gerechtigkeit. Nicht meine.

Er ist der gute Vater. Und der meint es gut. Am Schluss kommt es gut. Wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht der Schluss.

 

Zur Person
Nicu Bachmann liebt es, die alten Geschichten der Bibel in Musicals neu zu verpacken und dabei mit dem ganzen Cast Gott dicht auf den Fersen zu sein. Er ist verheiratet mit Usu, läuft gerne wie Forrest von A nach B und mag knisternde Musik ab Vinyl.

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